MotoGP: Das Saisonfinale ist in Barcelona

MotoGP-Titelkampf: Der neue, verbesserte Marc Márquez

Kolumne von Matthew Birt
Marc Márquez: Neue Taktik geht auf

Marc Márquez: Neue Taktik geht auf

MotoGP-Reporter Matthew Birt ist seiht mehr als 21 Jahren im WM-Zirkus unterwegs. In seiner neuesten Kolumne blickt er auf die neue Herangehensweise von WM-Leader Marc Márquez, der bereits in Japan den WM-Titel holen kön

In der Schule war ich in Mathe eine Null. Ich war sogar derart schlecht, dass ich beim Abschluss gleich zwei Mal durchfiel – und ich beschloss schnell, dass Zahlen einfach nicht meine Welt sind. Doch selbst ich kann mir ausrechnen, dass Marc Márquez bereits beim nächsten MotoGP-Wochenende in Japan seinen ersten Matchball im Kampf um seinen dritten Titel in der WM-Königsklasse hat.

Ein Márquez-Sieg auf dem Twin Ring Motegi – quasi im Vorgarten seines Brötchengebers Honda – würde dem Spanier gleichzeitig den Titel bescheren, wenn Valentino Rossi nicht mehr als zwei Punkte sammelt und dessen Yamaha-Teamkollege Jorge Lorenzo zudem nicht auf dem Treppchen landet. Das klingt nach etwas vielen Bedingungen, doch angesichts des unberechenbaren Verlaufs der diesjährigen Saison ist ein solcher Rennausgang nicht auszuschliessen.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass Rossi 15 seiner bisherigen 17 WM-Auftritte auf dem Twin Ring beenden konnte, neun davon auf dem Treppchen, wovon zwei sogar Siege waren. Auch Lorenzos starke Motegi-Bilanz lässt Márquez Chancen auf den Titelgewinn beim anstehenden Kräftemessen gering erscheinen. Denn sein Landsmann stand seit 2010 in jedem Japan-Rennen auf dem Podest, auch war er seit seinem MotoGP-Aufstieg 2008 nie schlechter als Vierter.

Doch dann entwickelte sich das, was als eine aussergewöhnliche Saison von Márquez bezeichnet werden kann...

Márquez nimmt das Rennen in Japan und die folgenden Übersee-Läufe nach einem überlegenen Auftritt in Aragón mit einem Punkte-Polster von 52 WM-Zählern in Angriff. Denn beim jüngsten GP war der Sieg nie gefährdet, nachdem Márquez erst noch in der siebten Kurve einen drohenden Sturz auf seine unvergleichliche Art und Weise unter Einsatz des Ellenbogens verhindert hatte. Er fiel von der ersten auf die fünfte Position zurück, weil ihn ein Windstoss schneller hatte in die Kurve schiessen lassen, als er es geplant hatte.

Doch davon liess sich Márquez nicht beirren, er schaltete in seinen gefassten Kontroll-Modus, denn er wusste, dass er das Tempo hatte, um das Spitzenquartett erst einzuholen und dann hinter sich zu lassen. Er wartete, bis sein harter Vorderreifen die nötige Betriebstemperatur hatte, bevor er wieder angriff. Statt aus lauter Frust jene unnötigen Fehler zu begehen, die ihm 2015 noch alle Chancen auf den Titel genommen hatten, übte er sich in Geduld und wartete noch zehn Runden ab, bevor er sich wieder an die Spitze vorarbeitete.

Der frühere Márquez hätte vor einem Jahr wohl noch nicht diese Ruhe an den Tag gelegt. Deshalb ist das Rennen in Aragón auch ein perfektes Beispiel dafür, dass Márquez in dieser Saison ein kompletterer Fahrer geworden ist, als er es vor einem Jahr noch war.

Vor einem Jahr musste er in Aragón noch seinen fünften Ausfall in 14 WM-Läufen einstecken. Damals landete er schon in der zweiten Runde im Dreck, so gross war seine Eile, den früh davongeeilten Lorenzo von der Spitze zu verdrängen. Doch solche kostspieligen Fehler konnte er mittlerweile ausmerzen.

Nach 14 Rennen ist er der einzige Fahrer im MotoGP-Feld, der in sämtlichen WM-Läufen Punkte geholt hat. Den einzigen bedauerlichen Moment in diesem Jahr erlebte er in Le Mans bei seinem Crash mit Andrea Dovizioso. Doch selbst da war er noch in der Lage, sich wieder aufzuraffen und den 13. Platz ins Ziel zu bringen.

Auch folgender Umstand macht klar, wie sehr sich Márquez von seiner alles-oder-nichts-Philosophie entfernt hat: Sein Sieg von Aragón war der erste Triumph des Spaniers auf trockener Piste in elf Rennen – seit er seine Ein-Mann-Show auf dem Circuit of The Americas in Texas gestartet hat, ist ihm das nicht mehr gelungen.

Mit dem Triumph von Aragón beendet Márquez auch eine Serie von vier MotoGP-Rennen in Folge, die er weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Platz beenden konnte. Gemessen an seinem – ungewöhnlich hohen – Niveau ist das schon eine Durststrecke. Und mit dem Sieg beendete er zudem eine Phase von sechs Spanien-Läufen, die er nicht gewinnen konnte. Einen Triumph auf heimischem Asphalt zu feiern schaffte er zuvor letztmals in Valencia 2014. Diese Statistiken dürften Márquez vor dem Aragón-Lauf gleich viele Bauchschmerzen verursacht haben wie mir der Mathe-Unterricht zu meiner Schulzeit.

Nun hat Márquez bereits eine Hand an der WM-Krone – seine dritte in vier Jahren. Und ich bin überzeugt, dass er für seinen etwas weniger aggressiven Fahrstil belohnt wird. Die Rennen in Barcelona, Assen, Spielberg und Misano sind die besten Beweise dafür, dass der Márquez von 2016 nicht mehr viel mit dem bisher bekannten Hitzkopf gemeinsam hat. Denn in allen vier Rennen besinnet er sich darauf, wichtige WM-Punkte ins Ziel zu bringen, statt mit der Brechstange ans Werk zu gehen und dabei alles zu riskieren – wohlwissend, dass ihm zum Sieg der Speed fehlte. Weil er das akzeptierte, sammelte er in diesen vier WM-Läufen 64 Punkte!

Márquez hat sich schon das ganze Jahr zusammengerissen, um seine Strategie durchzusetzen. Dass er sich in Assen mit dem zweiten und in Misano mit dem vierten Platz begnügt hat, ist das genaue Gegenteil von jener stürmischen Fahrweise, die ihm in die Wiege gelegt wurde. Der alte Márquez wollte dabei immer raus, um die natürlichen Instinkte, seinen angeborenen Vorwärtsdrang, über die Vernunft siegen zu lassen.

Nun, da er genug Punkte auf dem Konto hat, könnte er wieder zu seiner furiosen Fahrweise zurückkehren. In Silverstone brachte ihn ein später Fehler um die Chance auf einen Podestplatz. Und er achtete in Aragón schon früh auf den Wind, bevor er in der siebten Kurve fast von der Strecke geblasen worden wäre. Danach hängte er Rossi, Lorenzo und Maverick Viñales ab.

Seit der ersten Rennrunde von Katar hat sich Márquez in Geduld geübt. Es ging immer nur darum, in Valencia den ganz grossen Sieg feiern zu dürfen. Und, wie er selbst in Aragón so vorzüglich festhielt: «An den Fahrer mit den meisten Siegen in einer Saison erinnert sich später keiner mehr. Aber jeder weiss noch, wer den Titel geholt hat.»

Sein Hauptziel lautete von Anfang an, den Titel zu holen. Aber ich wette, es ist ihm – in zweiter Linie – auch wichtig, in jedem Rennen der Saison Punkte zu holen. Denn das hat er seit seinem MotoGP-Aufstieg nicht geschafft. Natürlich kommt das dem Triumph in der Weltmeisterschaft nicht einmal nahe. Aber für einen Fahrer von Márquez' Format, mit seinen Erfolgen, wäre das eine weitere Position auf der To-Do-Liste, die streichen dürfte. Auch wäre das ein weiterer Beweis, dass seine neue Taktik aufgeht.

Ich glaube nicht, dass Márquez sich den Titel zu diesem späten Zeitpunkt der Saison noch nehmen lässt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er wie Moto3-Weltmeister Brad Binder auch den Titel vorzeitig feiern darf. An dieser Stelle sei Binder zu einer wirklich aussergewöhnlichen Leistung gratuliert, dank der er sich zum ersten südafrikanischen Motorrad-Weltmeister seit 36 Jahren gekürt hat. Er ist das leuchtende Beispiel eines Piloten, der sich allen Hindernissen und Vorurteilen zum Trotz seinen Kindheitstraum erfüllt hat.

Vielleicht erleben wir in dieser unberechenbaren Saison auch eine späte Kehrtwende – alles ist vorstellbar. In den Übersee-Rennen in Japan, Australien und Malaysia kann auch viel passieren und für gewöhnlich tut es das auch. Man denke da bloss an das vergangene Jahr, in dem wir in drei Wochen mehr Kontroversen, Chaos und Verwirrung erlebt haben als in den drei Jahren zuvor. Wie heisst es doch so schön: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Aber das Ende ist absehbar…

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