Kritik von Ross Brawn: GP-Piloten alle verweichlicht?
Den neuen Formel-1-Grossaktionären von Liberty Media war von Anfang an klar: Ecclestone als Baumeister der modernen Formel 1 ist in dieser Form nicht zu ersetzen, weil der diktatorisch-kontroverse Führungsstil nicht zeitgemäss ist, statt dessen teilt sich die Leitung der Formel 1 künftig auf mehrere Personen.
Chase Carey ist Formel-1-Verantwortlicher von Liberty Media im Range eines Vorstandsvorsitzenden. Ihm zur Seite steht Ross Brawn, Wegbegleiter von Michael Schumacher bei Benetton, Ferrari und Mercedes. Der 62jährige Engländer wird sich um die sportliche Entwicklung der Formel 1 kümmern, im Range eines Geschäftsleiters Motorsport. Ebenfalls an Careys Seite: Sean Bratches, langjähriger Marketing-Chef des Sport-TV-Senders ESPN. Der US-Amerikaner leitet ab sofort den kommerziellen Teil des Sports, ebenfalls im Range eines Geschäftsleiters. Hier reden wir exakt von jenen Bereichen, welche bislang den Kern von Bernie Ecclestones Arbeit bildeten.
Der 62jährige Brawn ist dazu da, alles auf den Prüfstand zu stellen. Der Engländer hat schon zum DRS-System (drag reduction system) gesagt: «Der verstellbare Heckflügel geniesst keine allgemeine Popularität. Viele Fans erhalten den Eindruck: Der Pilot muss an Bord nur einen Knopf drücken, um den Wagen vor ihm zu überholen. Ist das wirklich, was ein Rennsportanhänger sehen will?»
Im Rahmen eines längeren Gesprächs mit meinem Kollegen Maurice Hamilton für den Sportsender ESPN legt Brawn nach, als er gefragt wird, ob die Formel 1 nicht überreguliert sei, mit Piloten, die nahezug verweichlicht sind: «Du und ich, wir waren schon im Motorsport, da gab es noch keine blauen Flaggen. Der frühere Rennstallbesitzer Ken Tyrrell war berühmt dafür, seinen Piloten zu sagen – du lässt keinen vorbei, auch wenn du überrundet werden sollst!»
«Mein Instinkt sagt mir: Es wäre spassig, die blauen Flaggen (Achtung! Hintermann will überholen! Platz machen! Die Red.) über Bord zu kippen. Das wäre doch eine schöne Herausforderung für die Fahrer. Heute geht das so: Ein Pilot an der Spitze oder auf einem der vorderen Ränge läuft auf einen Hinterbänkler auf und schon ist er am Funk: „Blaue Flaggen! Blaue Flaggen!“ Sie wollen wohl einen Passierschein haben, und sie sind mental darauf eingestellt, dass sie mühelos vorbeikommen. Die Piloten früher hingegen wussten genau: „Ich erhalte hier nichts geschenkt, ich muss halt selber schauen, wie ich an dem da vorne vorbeikomme.“»
Ferrari-Star Sebastian Vettel ist einer, der sich immer wieder darüber beschwert, dass zu Überrundende nicht oder viel zu langsam auf die gezeigten blauen Flaggen reagieren. Das geht so weit, dass die Fans Bildcollagen herstellen, mit einem blau eingefärbten Ferrari, oder dass sie einen Blue-Flag-Song für den Ferrari-Star komponieren, was wirklich brüllend komisch ist.
Zur Ehrenrettung des vierfachen Weltmeisters sei festgehalten: Die blauen Flaggen gehören nun mal zum Reglement, Vettels Aufgabe ist es, so schnell als möglich an den Autos vor ihm vorbeizukommen. Blaue Flaggen zu fordern, das gehört zum Repertoire des modernen GP-Piloten wie das saubere Anfahren der Box beim Reifenwechsel.
Ross Brawn weiter: «Keine blauen Flaggen mehr zu haben, das würde ein Element der Unsicherheit zurückbringen. Hier finde ich wirklich, wir sind an der Grenze angelangt sind, den Sport zu sehr zu regulieren.»
«Wir haben auch bei den ganzen Strafen für die Fahrer ausführlich darüber geredet, und die jüngste Tendenz geht ja in die Richtung, den Piloten wieder eine etwas längere Leine zu lassen. Das finde ich sehr gut.»
«Klar müssen die Rennkommissare reagieren, wenn sich einer komplett danebenbenimmt. Aber ein wenig Geplänkel sollte schon drin liegen, immerhin machen wir hier Motorsport. Insofern war Max Verstappen wie eine frische Brise für die Formel 1. Er fährt sehr aggressiv und hat einige seiner Gegner gegen den Strich gebürstet, das gehört zum Rennsport, das wollen die Fans erleben. Ich persönlich bin der Ansicht, dass sich der Niederländer nie etwas Himmelschreiendes hat zuschulden kommen lassen, also können wir uns alle ein wenig entspannen.»
«Klar besteht hier die Gefahr, dass die Fahrer etwas zu weit gehen, dann müssen wir uns mit dieser Situation im Einzelnen befassen. Ich glaube jedoch, dass dies vertretbar ist.»
«Was mir auch im Magen liegt, das sind die ganzen Strafen für die Motorwechsel – dass dann ein Fahrer um einige Ränge zurückmuss. Wir hatten mal die absurde Situation von 70 Plätzen zurück in der Startaufstellung, das ist schlecht für den Sport. Mir ist klar, wieso wir diese Lösung haben, aber wir müssen es uns zur Priorität machen, eine andere zu finden. Die Fans finden es doch lachhaft, dass ein Fernando Alonso nach einer 70-Ränge-zurück-Strafe am Schluss des Feldes Aufstellung nehmen muss. Das fühlt sich einfach falsch an.»