Ayrton Senna: Unbeirrt, unerreicht, unvergessen
Imola 1994, ein schwarzes Wochenende für die Formel 1, mein schlimmstes Wochenende im Rahmen einer Leidenschaft, die ich zum Beruf machen durfte. Imola 1994, das Wochenende, als wir am Samstag vor dem San-Marino-GP Roland Ratzenberger verloren.
Die Stimmung am Abend im Hotel des kleinen Ortes Riolo Terme war entsprechend gedrückt. «Zuerst der schwere Unfall von Rubens Barrichello am Freitag, jetzt das mit Roland», sagte einer. «Was könnte noch Schlimmeres kommen?» Die Antwort eines anderen habe ich nie vergessen: «Wenn morgen Senna stirbt.»
Der Unfall des Brasilianers hat uns den charismatischen Brasilianer genommen, aber sein Andenken lebt, auch 23 Jahre später. Noch heute sitzen auf den Tribünen der Formel-1-Rennen Fans mit einem Senna-Shirt. Noch heute bezeichnen ihn Stars wie Hamilton und Alonso als Idol. Ich für meinen Teil bin einfach stolz, dass ich ihn bei seiner Arbeit beobachten durfte. Seine Quali-Runden waren unfassbar – wenn er zum Schluss des Trainings auf die Bahn ging, dann haben alle gewusst: Jetzt wird etwas Magisches geschehen.
Vor drei Jahren besuchte ich eine Ausstellung. Sie hiess «Entscheidungen». Es ging darum, wie jeder von uns jeden Tag hunderte von Entscheidungen trifft, und wie fast jede davon dem Leben eine andere Richtung gibt. Manchmal zum Besseren, manchmal nicht, manche haben grosse Auswirkungen, andere nur ganz geringfügige. Das ist ein interessanter philosophischer Ansatz, denken Sie mal in Ruhe darüber nach.
Dabei kommt mir ein Foto in den Sinn, das rund zwanzig Jahre nach dem Tod von Ayrton durchs Internet irrlichtete. Das Bild zeigte, wie sich Ayrton Senna nach dem Imola-Unfall aus dem Williams-Wrack stemmt. Leider haben wir dieses Bild nie erleben dürfen. Mit einem heutigen Auto hätte er gute Chancen gehabt, den Unfall unbeschadet zu überstehen. Er hätte sich höchstens darüber geärgert, dass dieser Schumacher erneut gewonnen hat.
Das führte mich zum Gedanken: Wie hätte sich alles entwickelt, wenn Senna Imola 1994 überlebt hätte?
In der Nacht vor dem Unglücksrennen war der grosse Brasilianer in tiefer Bestürzung. Die Unfälle von Rubens Barrichello und Roland Ratzenberger hatten ihn aufgewühlt. Seinem engen Freund, dem Rennarzt Professor Sid Watkins, vertraute er sich an. Watkins riet ihm: «Dann fahr doch einfach dieses Rennen nicht. Oder warum hörst du nicht gleich ganz auf? Was musst du der Welt noch beweisen? Lass das alles zurück und wir gehen fischen und fertig.»
Senna antwortete: «Es gibt gewisse Dinge, über die ich keine Kontrolle habe. Ich kann nicht aufhören. Ich muss weitermachen.»
Ayrton Senna hat damals eine Entscheidung getroffen, der Rest ist bekannt.
Aber nochmals: Was, wenn er den Unfall überlebt hätte?
ch bin fest davon überzeugt: Ayrton hätte aus dem zunächst so störrischen Williams FW16B ein manierliches Auto gemacht. Und er wäre damit 1994 Formel-1-Weltmeister geworden, zum vierten Mal nach 1988, 1990 und 1991. Bei allem Respekt für Damon Hill: Wenn der Brite die WM-Entscheidung gegen Michael Schumacher im Benetton bis zum Finale von Adelaide offenhalten konnte, dann hätte Senna den Titel längst zuvor klargemacht. Niemand wird mir widersprechen, wenn ich behaupte: Senna fuhr in einer anderen Kategorie als Hill.
Williams baute in der Folge 1996 (Weltmeister Hill) und 1997 (Weltmeister Villeneuve) das beste Auto im Feld. Gehen wir davon aus, dass Senna bei Williams geblieben wäre, so hätte er 1997, als 37-Jähriger, leicht bei mindestens sechs WM-Titeln stehen können.
Dann hätte er aufgehört oder er wäre er zu Ferrari gegangen.
Niemand kann sagen, was er dort noch erreicht hätte. Der frühere Lancia- und Ferrari-Rennchef Cesare Fiorio beteuerte: «Ich hatte mit Ayrton alles klargemacht – er hätte seine Karriere bei Ferrari beendet. Und zwar als Weltmeister.»
Wann immer das gewesen wäre: Ich weiss, Ayrton Senna hätte während und nach Abschluss seiner Rennkarriere die Vision eines besseren Brasilien mit allem Nachdruck umgesetzt, mit der gleichen Konsequenz wie hinterm Rennlenkrad. Die Art und Weise, wie unbeirrt er in seiner Rennkarriere vorging, das hätte er auch in anderen Bereichen umgesetzt.
Ich bin sicher, er hätte eine Familie gegründet. Er wäre ein fabelhafter Vater geworden, denn er liebte Kinder.
Wenn ich mir anschaue, welch politisches Chaos derzeit in Brasilien herrscht, liegt die Vorstellung auch nahe: Hätte sich Senna vielleicht in der Politik engagiert? So wie das der Argentinier Carlos Reutemann nach Abschluss seiner Rennkarriere tat? Wäre Senna heute vielleicht sogar brasilianischer Staatschef?
Oder Senna hätte beim Autoverband FIA aufgeräumt. Ihm war zutiefst zuwider, wie der damalige Verbandspräsident Jean Balestre mit ihm umsprang. Durchaus denkbar, dass sich Senna bei der FIA eingebracht hätte. Ungerechtigkeit machte ihn rasend.
So oder so bin ich aber davon überzeugt, er würde viele der heutigen Entscheidungen in der Formel 1 so unverblümt kommentieren wie er es damals tat.
Wieviele Menschen Ayrton Senna berührt hat, wird von der Tatsache unterstrichen, wie lebendig der Mythos Senna heute ist, 23 Jahre nach seinem Tod. Für viele ist er der grösste Formel-1-Rennfahrer, ungeachtet aller Statistiken – für mich auch. Aber nicht seine Rennerfolge sind das kraftvollste Vermächtnis.
Die Arbeit für das Wohl der Bevölkerung von Brasilien und zahllose Verbesserungen der Sicherheit, nicht nur im Rennwagenbau, das ist sein wahres Erbe. Der NCAP-Crashtest, 1996 eingeführt, war eine direkte Folge des San-Marino-Wochenendes.
Wir haben in Imola 1994 Roland Ratzenberger und Ayrton Senna verloren. Aber ihr Tod hat geholfen, tausende von Menschenleben zu retten.
Das ist bei aller Schwermut über den Verlust der beiden Racer ein tröstlicher Gedanke.
Lewis Hamilton: Senna als Inspiration
Was viele Fans vergessen haben: Einst hat der junge Lewis Hamilton einen knallgelben Helm gewählt, weil er Ayrton Senna nacheifern wollte.
Der Helm von Ayrton Senna hatte Signalwirkung: Wann immer seine Gegner das Knallgelb im Rückspiegel erkannten, zuckten sie schon zur Seite. Sie wussten – Senna würde sie so oder so packen, wozu also Gegenwehr?
Wir haben Senna 1994 in Imola verloren, aber vielleicht haben wir dank Senna einen jungen Engländer gewonnen, denn Lewis sagte im Rahmen eines Monaco-GP: «Ayrton war jener Fahrer, der meine Aufmerksamkeit erregte. Dank ihm kam ich zum Sport. Es fühlt sich noch immer unwirklich an, dass ich es, als Knirps mit einem Speck-Sandwich auf einem crèmefarbenen Sofa sitzend, selber zum Weltmeister geschafft habe. Wer hätte das damals ahnen können? Und es erfüllt mich noch heute mit Staunen, dass ich im selben Atemzug wie Senna genannt werde.»
Doch Hamiltons Leistungen erlauben die Vergleiche durchaus: er hat die drei WM-Titel von Senna egalisiert. Der Brasilianer wurde 1988, 1990 und 1991 Champion, der Brite 2008 (ebenfalls mit McLaren, wie Senna), dann 2014 im Silberpfeil und 2015. Lewis: «Ich habe immer gesagt – ein grosses Ziel meiner Karriere ist es, so erfolgreich wie Senna zu sein.»
In Sennas Heimat wird Hamilton immer besonders warm empfangen, die südamerikanischen Rennfans spüren, dass Lewis etwas Besonders ist. Hamilton sagt weiter: «Die Brasilianer sind sehr leidenschaftlich, haben so viel Spass und gehen aus sich heraus. Es ist ein lebhaftes Land voller Farben und bedeutet mir sehr viel. Dies war Ayrtons Heimrennen. Als Kind habe ich immer davon geträumt, in São Paulo zu fahren. Wenn ich dort bin, fühle ich seine Präsenz. Er war ein grosser Held in Brasilien, und es ist eine besondere Erfahrung, dass ich dort immer so herzlich empfangen werde. Es ist unglaublich, wenn man bedenkt, dass Ayrton acht Anläufe brauchte, um dieses Rennen zu gewinnen.»
An Siegen hat Hamilton sein Idol überflügelt, aber der Brite sagt sofort: «Das sagt nichts aus. Niemand sollte vergessen, dass Ayrton noch sehr viele Rennen mehr gewonnen hätte, wäre nicht das Schicksal dazwischen gekommen.»
Auch in Sachen Pole-Positions wird Hamilton den legendären Brasilianer wohl bald einholen: Ayrton hat in seiner Karriere 65 Pole-Positions (in 161 Rennen) erreicht, Hamilton kommt auf 63, Michael Schumacher hat 68. «Er hatte viele Pole Positions in viel weniger Rennen. Wir wissen alle, dass er damals Phänomenales geleistet hat - Michael genauso. Ich fühle mich geehrt jetzt in einer Reihe mit ihnen zu stehen», sagte Hamilton zuletzt beim GP in China.