GP-Star Lewis Hamilton: «Bin ich ein Idiot oder was?»
Lewis Hamilton 2017 in Baku
In Baku 2016 hörten wir von Weltmeister Lewis Hamilton ungewöhnliche Worte: «Ich fand das gefährlich. Ich musste den grössten Teil der Runde auf das Display hinunterschauen. Du tust das vorzugsweise auf den Geraden. Ich fragte das Team, was ich tun sollte, aber aufgrund der Beschränkungen im Funkverkehr durfte man mir das nicht sagen. Ich guckte also auf die ganzen Knöpfe herunter und dachte: Bin ich ein Idiot oder was? Aber das Team sagte mir auch, ich hätte nichts falsch gemacht. Also probierte ich halt, mich durch die ganzen Einstellungen zu arbeiten.»
Was damals gemäss Mercedes-Benz passierte: «Lewis war nicht in einer falschen Motoreinstellung, einfach in einer anderen als Nico Rosberg.» Genau genommen ging es um die Art und Weise, wie die elektrische Energie zur Gesamtleistung beiträgt. Irgendwann hatte der Brite die korrekte Einstellung gefunden. Lewis: «Ab da war ich sofort eine Sekunde pro Runde schneller. Es war ein wenig verwirrend. Mir war nicht klar, ob ich selber vielleicht etwas verstellt hatte, so dass das System nicht optimal funktionierte. Das Problem war von Anfang an da. Ich verstellte alles Mögliche. Acht Runden vor Schluss lief dann endlich alles, wie es sollte. Zu dem Zeitpunkt gab es keine Chance mehr, Kimi vor mir zu holen, also schonte ich den Motor und fuhr ins Ziel. Wir haben so viele Schalter und Verstellmöglichkeiten, ich rede hier von Dutzenden von Varianten, ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich machen sollte, um das zu korrigieren.»
Die modernen Formel-1-Fahrer sind bewundernswerte Multi-Tasker. Die Besten koppeln solche Denksportaufgaben vom reinen Fahren ab und plaudern dazu auch noch am Funk, als würde sie zuhause auf ihrem Sofa sitzen.
Grund zur Verzweiflung gibt es für Lewis Hamilton am nächsten Wochenende reichlich, selbst wenn Mercedes in Sachen Motoreinstellung alles perfekt machen wird. Der Knackpunkt 2018 heisst Pirelli. Der vierfache Weltmeister aus England tut sich schwer damit, die Mailänder Walzen ins perfekte Betriebsfenster zu bringen und sie dort zu halten. Wenn ihm das gelingt, fährt er magische Runden wie im Abschlusstraining zum Australien-GP. Wenn ihm das nicht gelingt, zeigt er eher verhaltene Rennen.
Viele Leser haben uns E-mails geschrieben und fragen sinngemäss: Wie kann der Umgang mit den Reifen so schwierig sein? Hier der Versuch einiger Antworten.
Vielen von uns werden minimale Temperaturveränderungen nicht auffallen. In der Formel 1 haben jedoch selbst kleine Anstiege oder Rückgänge von nur ein oder zwei Grad einen beträchtlichen Einfluss darauf, wie die Teams ein Rennen oder ein Training angehen.
Der anstehende Grosse Preis von Aserbaidschan wechselt in diesem Jahr aus der Hitze im Juni auf einen neuen Termin im kühleren April. Das macht die Aufgabe der Teams noch komplizierter.
Temperatur ist nicht Temperatur
In der Formel 1 spielen zwei Temperaturen eine entscheidende Rolle: die Luft- und die Streckentemperatur. Obwohl beide miteinander verbunden sind, sind sie selten identisch. Ein Beispiel: An einem wundervollen, sonnigen Tag steigen sowohl die Luft- als auch die Streckentemperatur an. Sobald sich Wolken bilden, fällt die Lufttemperatur sofort wieder ab. Die Streckentemperatur bleibt jedoch länger bestehen und kühlt nur langsam ab.
Abhängig von den Materialien, aus denen die Oberfläche besteht, heizen sich Strecken schneller oder langsamer auf. Eine dunkle Streckenoberfläche absorbiert mehr Sonnenlicht und heizt sich schneller auf.
Temperaturunterschiede wirken sich auf viele Teile des Autos aus, aber den grössten Einfluss nehmen sie normalerweise auf die Reifen. Die Streckentemperatur beeinflusst, wie heiss die Reifen werden, was wiederum einen Einfluss auf das Grip-Niveau sowie die Abbaurate nimmt.
Formel-1-Reifen besitzen ein sehr enges Funktionsfenster, also den optimalen Bereich, in dem sie mit Blick auf das Grip-Niveau die beste Leistungsfähigkeit bieten. Unter diesem Fenster produzieren sie nicht das gleiche Niveau an mechanischem Grip, darüber kann der Reifenabrieb zunehmen. Wenn das optimale Funktionsfenster für die Reifen nur um ein paar Grad verpasst wird, kann das eine Zehntelsekunde an Rundenzeit kosten.
Da die Vorder- und Hinterreifen nicht bei gleichen Temperaturen funktionieren, beeinflusst eine Veränderung der Streckentemperatur sie unterschiedlich und erhöht oder verringert ihr Grip-Niveau ungleichmässig. Schwankende Streckentemperaturen nehmen deshalb auch Einfluss auf die Fahrzeugbalance. Aus diesem Grund verändern die Teams regelmässig die Fahrzeugabstimmung, um auf diese Veränderungen zu reagieren.
Die Rolle des Fahrers
Aber nicht nur die Teams reagieren auf diese Veränderungen, auch die Fahrer. Ihr Fahrstil hat direkten Einfluss auf die Reifentemperatur. Die Fahrer attackieren härter, wenn sie die Reifen aufheizen wollen, besonders in schnellen Kurven.
Wenn sich die Streckentemperatur während eines Rennens stark verändert, stehen den Fahrern mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Sie können nicht nur beeinflussen, wie stark sie die Reifen herannehmen, sondern auch ihre Fahrlinie verändern, um diese besser an die Balance des Autos anzupassen. Sie können aber auch das Differenzial – also den Betrag an Drehmomentübertragung zwischen den Hinterrädern – oder die Bremsbalance nach vorne oder nach hinten verstellen.
Wenn es dem Auto zu heiss wird
Während die Reifen vor allem durch die Streckentemperatur beeinflusst werden, nimmt die Lufttemperatur mehr Einfluss auf die Bremsen, die Kühlung und die Antriebseinheit. Deshalb überwachen die Teams ständig die Luft- und Streckentemperaturen sowie die Temperaturen der Fahrzeugkomponenten. So können die Teams verfolgen, wie sich diese Komponenten im Verlauf einer Session oder des Rennens entwickeln oder verändern.
Temperaturschwankungen verändern den Kühlbedarf, der notwendig ist, um die Antriebseinheit innerhalb des optimalen Fensters zu halten und den Teams den bestmöglichen Leistungs-Output zu bieten. Wenn die Umgebungstemperatur sehr hoch ist, wird mehr Luftfluss benötigt, um die optimalen Temperaturen zu erreichen. Entsprechend öffnen die Teams die Verkleidung des Autos, um den Luftfluss durch die Kühler zu erhöhen.
Die Teams können an einem Rennwochenende verschiedene Konfigurationen der Kühlung einsetzen, um sich an die erwarteten Bedingungen anzupassen. Das gilt besonders an Rennwochenenden wie in Bahrain, wo Trainings sowohl bei heissen Tagestemperaturen als auch bei kühleren Temperaturen am Abend stattfinden.
Kniffliger wird es, wenn sich die Bedingungen am Samstag und Sonntag stark voneinander unterscheiden. Denn das Reglement erlaubt zwischen dem Qualifying und dem Rennen keine Veränderungen an den Autos.
Selbst ohne eine Veränderung bei den Temperaturen ist die Fahrzeugabstimmung am Samstag immer eine Balance zwischen rohem Speed auf eine Runde sowie der Wettbewerbsfähigkeit im Rennen. Eine aggressive Abstimmung mag ein grossartiges Grip-Niveau auf einer Runde des Qualifyings erzeugen, gleichzeitig kann sie aber den Reifenabbau im Rennen erhöhen. Entsprechend müssen die Teams einen Kompromiss finden.
Wenn von Samstag auf Sonntag eine Temperaturveränderung vorhergesagt wird, erhöht das die Herausforderung für die Teams noch einmal, da sie bei der Vorbereitung des Autos für das Qualifying am Samstag immer die Bedingungen am Sonntag im Hinterkopf haben müssen.
Baku-GP 2018: April, April
Wenn wir uns das kommende Baku-Rennwochenende ansehen, bringt der neue April-Termin eine interessante Herausforderung mit sich: Der Terminwechsel von Ende Juni auf Ende April bedeutet, dass die Bedingungen beim Grossen Preis von Aserbaidschan deutlich anders sein werden als in den beiden Vorjahren. Der Unterschied bei den Durchschnittstemperaturen kann in Baku zwischen April und Juni rund zehn Grad ausmachen, für Formel-1-Autos eine gewaltige Menge.
Wenn die Teams zu Rennen mit wechselhaften Bedingungen reisen, führen sie vorher eine Reihe an Simulationen durch, mit unterschiedlichen Umgebungs- und Streckentemperaturen, um Abstimmung und die Kühlungseinstellung zu finden. Deshalb waren die Teams vor der Formel-1-Rückkehr nach Baku alle fleissig im Simulator, um zu verstehen, wie sich die veränderte Streckentemperatur auf die Reifen und die Balance auswirken wird.
Der Simulator hilft den Teams, die notwendigen Abstimmungsveränderungen vorherzusagen. Dabei handelt es sich um ein entscheidendes Element der Rennvorbereitung, das ein generelles Verständnis für die Abstimmung des Autos erlaubt, bevor es am Freitag wirklich auf die Strecke geht. Die Rrennställe nutzen das Training dann zur Feinabstimmung und stellen sicher, dass die Fahrer mit der daraus resultierenden Fahrzeugbalance zufrieden sind.
Und gerade auf einem Strassenkurs wie Baku gilt: Nur wer mit dem Handling seines Autos zufrieden ist, fährt wirklich schnell.