Historie: Der weisse Elefant, Opa der Formel-1-Retter
Vor kurzem haben wir einen Film über den 1978 verstorbenen Ronnie Peterson vorgestellt (mehr dazu finden Sie hier). Im Film sagt die schottische Rennlegende Sir Jackie Stewart: «Ich habe einmal zusammengezählt, wie viele Freude ich während meiner Zeit als Racer verliere. Dadurch merkte ich mit Entsetzen – die Chance, dass ich sterbe, steht bei eins zu drei.» Stewart begann, sich unermüdlich für Sicherheit im Motorsport einzusetzen. Eines der Schlüsselerlebnisse: Als er nach einem Unfall beim Belgien-GP 1966 im benzingetränkten Wagen eingeklemmt war, Graham Hill befreite ihn aus seiner misslichen Lage, später war Jackie schockiert über den Zustand der Krankenstation in Spa-Francorchamps, «der Boden dreckig, von Zigarettenstummeln übersät, unfassbar».
Stewart begann eine umfangreiche Kampagne für mehr Sicherheit an den Rennstrecken, für Pistenbegrenzungen, Feuerbekämpfung, Auslaufzonen. Jackie stiess auf Widerstand. Das Risiko wurde damals in Kauf genommen, einige bezichtigten Stewart der Feigheit. Aber die Rennstrecken waren in einem Zustand, da würde heute nur noch eine Handvoll Fahrer die Eier haben, überhaupt auf die Bahn zu gehen. Und die medizinischen Einrichtungen waren ein Witz, allerdings ein schlechter.
Jackie Stewart war nicht der Einzige, der sich Gedanken machte. In den 70er Jahren erlangte das Auto mit dem Kennzeichen MA-LV 547 auf den Rennstrecken Europas grosse Berühmtheit. Das Nummernschild gehörte zum ersten Krankenwagen, der regelmässig im Motorsport eingesetzt wurde. Federführend dabei war der Deutsche Sportfahrer Kreis e.V. *, der damit die medizinische Versorgung bei den verschiedenen Veranstaltungen massgeblich verbesserte.
Zustande kam das Projekt auf Initiative des damaligen DSK-Präsidenten Bodo Grafenhorst, des Vizepräsidenten Hans Schwägerl und durch Dr. Eduard Rothenfelder, Facharzt für Chirurgie und Orthopädie in der Unfallklinik Mannheim, Motorsportfan und in der Szene wohlbekannt.
Was heute bei jeder Slalom-Veranstaltung zum Standard gehört, war damals alles andere als normal. Die Initialzündung kam von Dr. Rothenfelder, der 1969 bei einer Sitzung des Präsidiums über die schlechte medizinische Versorgung bei Rennsport-Veranstaltungen referierte und passende Gegenmassnahmen vorschlug. Dass sich der Wunsch nach mehr Sicherheit so schnell in die Tat umsetzen liess, ahnte damals noch niemand.
Beim Automobilsalon von Genf wurde man auf einen Rettungswagen aufmerksam – damals nannte man ein solches Fahrzeug Clinomobil. Nach ausgiebiger Besichtigung war man sich schnell darüber einig, dieses Fahrzeug für 50.000 DM zu kaufen und an den Rennstrecken in Deutschland einzusetzen. Die Finanzierung deckten Spenden von Mitgliedern und der Industrie.
Bis zum ersten Einsatz mussten aber noch einige Hürden genommen werden, denn damals wie heute dürfen Rettungswagen nicht einfach eingesetzt werden. Gemeinsam mit dem Mannheim-Heidelberger-Sports-Touring-Club, Edi Rothenfelder und der Johanniter Unfall-Hilfe Mannheim fand man schnell eine Lösung: Die Johanniter wurden Betreiber des Rettungswagens, und die Weichen für mehr Sicherheit im Motorsport waren gestellt.
Der Einsatzleiter des Fahrzeuges, Hans-Günter Besau, hauptberuflich Maschinenbautechniker bei den John Deere-Werken in Mannheim, erinnert sich: «In dem Wagen konnten vier Personen sitzend und zwei Personen liegend transportiert werden. Das war eine Rarität. Das war ein Ausstellungsfahrzeug. Eigentlich wurde es nur gebaut um mal darzustellen, was man mit so einem Rettungswagen alles machen kann. Beim DSK war man begeistert, weil man das Auto aufgrund der Grösse auch als Rallye-Begleitfahrzeug einsetzen konnte. Das war wie ein Rettungsbus.»
Premiere feierte der Rettungswagen vom 29. bis 31. Mai 1970 beim 1000-Kilometer-Rennen auf dem Nürburgring. In der Motorsport-Szene war er später unter dem Namen «Mannheimer Lebensversicherung» bekannt. Passend dazu war das Nummernschild: MA-LV 547. In den Folgejahren leisteten der Wagen und seine Besatzung nicht nur Dienst an deutschen Rennstrecken – auch im europäischen Ausland forderte man die Lebensversicherung für Rennen an, auch für Formel-1-Grands Prix. Im Premierenjahr hatte das Team 20 Einsätze bei Rundstreckenrennen, Bergrennen und Rallyes. Am Ende des Jahres wurde der Rettungswagen auf der Essener Motor Show, vormals Rennwagen-Ausstellung, ausgestellt.
Besau erzählt weiter: «Edi Rothenfelder ist dann immer in dem Fahrzeug mitgefahren. Ich habe sozusagen die Schirmherrschaft übernommen. Ich war der Einsatzleiter vom Anfang bis zum Schluss. Zunächst lief er als DSK-Rettungswagen und wurde vornehmlich bei den permanenten Rennstrecken in Hockenheim und am Nürburgring eingesetzt.»
«Nach den ersten Probe-Einsätzen haben wir mit Rallye-Begleitungen angefangen. Wir haben die Hessen-Rallye begleitet, die bis nach Tschechien führte, die Stuttgart-Rallye, die bis nach Frankreich in die See-Alpen ging. Das war schon ungewöhnlich, mit so einem halben LKW diese langen Touren zu machen. Die Besatzung bestand dabei immer aus drei Personen, Fahrer und Beifahrer, die beide ausgebildete Rettungssanitäter waren, und Dr. Rothenfelder.»
«Unsere Arbeit war ehrenamtlich. Ich war von Beruf Maschinenbautechniker bei den John Deere-Werken in Mannheim. Am Wochenende bin ich Rettungswagen gefahren. Die Geschichte mit dem DSK-Rennwagen lief nebenbei. Wir haben uns mit einer kleinen Gruppe innerhalb der Johanniter auf Motorsport-Betreuung spezialisiert. Das konnte man mit dem normalen Rettungsdiensteinsatz schwer vergleichen. Man musste schon wissen, wie der Motorsport funktioniert.»
«Wir waren die Ersten, die während des Rennens auf die Strecke gefahren sind. Damals wurden die Rennen bei einem Einsatz nicht abgebrochen. Das hat aber nur funktioniert, weil wir die Ideallinie der Sportfahrer kannten und wir uns dann auf der Strecke ausserhalb dieser bewegt haben. Natürlich wurde dementsprechend beflaggt, aber der Spuk mit uns war meistens in ein paar Minuten vorbei.»
Die Grösse des Rettungswagens und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten halfen im Laufe der Jahre so manch schwerverletztem Piloten weiter. Ohne das Fahrzeug hätte es oftmals nicht die notwendige Hilfestellung gegeben. Besau verdeutlicht dies an einem Beispiel aus der Praxis: «Es gab bei der Rallye Wien-Budapest einen schweren Unfall. Da ist ein Fahrer des Steinmetz-Teams tödlich verunglückt und der Beifahrer war schwer verletzt. Wir haben ihn dann in Györ abgeholt und in einer Vakuum-Matratze nach Rüsselsheim nach Hause transportiert, obwohl er Beckenbrüche hatte.»
Der Rettungswagen, genannt «der weisse Elefant», war auch in anderer Hinsicht Vorreiter. Besau und sein Team lernten damals Herbert Linge kennen, Rennfahrer der Nachkriegszeit bei Porsche. Linge setzte sich ebenfalls stark für die Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen im Rennsport ein. Gemeinsam schmiedete man den Plan ein System auf die Rennstrecke zu übernehmen, das damals schon im alltäglichen Rettungseinsatz ausprobiert wurde: das so genannte Rendezvous-System.
Dabei handelt es sich um eine Einsatztaktik, bei der zwei Einheiten zum selben Einsatzort alarmiert werden, um dort gemeinsam Hilfe zu leisten. Linge steuerte zunächst einen alten Sechszylinder-Porsche 914 bei, den er in Weissach in der Garage stehen hatte. Dieser wurde zum Notarzt-Einsatzwagen umgebaut. Besau: «Es wurde gesagt – wenn wir die Rettungskette aufbauen, ist der Rettungswagen wichtig, weil er die Leute abtransportieren und in ihm auch gearbeitet werden kann, wie im Vorbereich einer Klinik. Aber vor allem ist es wichtig, den Arzt so schnell wie möglich an die Unfallstelle zu bringen. Deswegen hat man den Arzt auf einen flinken PKW gesetzt, der LKW ist gleichzeitig gestartet und kam ein paar Minuten später an. Der Arzt konnte somit schon seine ersten Diagnosen stellen. Am Anfang ist Herbert Linge den Porsche gefahren. Später ist das immer mehr gewachsen, die Industrie hat gesponsert und daraus ist die ONS-Staffel entstanden.»
1973 übergab der Deutsche Sportfahrer Kreis das Fahrzeug an die ONS als Ergänzung des Rennstrecken-Sicherungsprogramms. Zwei Jahre später fuhr der erste Rettungswagen in der Motorsportgeschichte nach über 14.000 Dienststunden und dem dritten Austauschmotor seinen letzten Einsatz.
* Der Deutsche Sportfahrer Kreis kümmert sich seit 60 Jahren um die Interessen von aktiven Motorsportlern und Fans. Mit 13.000 Mitgliedern ist der DSK europaweit die grösste Vereinigung dieser Art. Anliegen des DSK sind Förderung des Breitensports, Umweltarbeit und Sicherheit im Motorsport. Als neutraler Beobachter vertritt der DSK die Belange seiner Mitglieder bei nationalen und internationalen Sportbehörden. Gegründet wurde der DSK 1958 von der deutschen Rennfahrerlegende Wolfgang Graf Berghe von Trips.
Mehr über die Arbeit des DSK finden Sie auf www.dskev.de