Michael Schumacher: Alles begann mit einer Notlüge
Ausgangspunkt für die erfolgreichste Formel-1-Karriere eines Rennfahrers war, keiner könnte so etwas in ein Hollywood-Drehbuch schreiben, ohne ausgelacht zu werden – ein Tränengas-Spray. Die Geschichte von Michael Schumacher und seinem GP-Debüt für Jordan in Spa-Francorchamps 1991 beginnt gar nicht in den Ardennen und auch nicht bei Testfahrten auf dem kurzen Kurs von Silverstone, sondern in den Strassen von London.
Mitte August 1991 wurde Jordan-Fahrer Bertrand Gachot von einem Londoner Gericht zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Richter sah es als erwiesen an, dass der heissblütige Rennfahrer einen Konflikt mit einem Taxifahrer zu Unrecht mit Reizgas beendet hatte.
Eddie Jordan hatte jetzt ein echtes Problem: Er stand ohne zweiten Piloten da. Der quirlige Teamchef zog mehrere Möglichkeiten in Betracht: Stefan Johansson, Derek Warwick, sogar Keke Rosberg, ungeachtet dessen, dass der Finne seit fünf Jahren nicht in einem GP-Renner gesessen und in dieser Zeit nicht übertrieben oft von einem Comeback gesprochen hatte.
Jordan stand mit dem Rücken zur Wand: Er hatte das Formel-1-Abenteuer in Phoenix 1991 mit einem hauchdünnen Budget begonnen, obschon der Jordan 191 mit seiner grünen Lackierung und den Werbeklebern von Fuji Film, 7UP oder BP gut finanziert aussah, war er es in Wahrheit nicht. Letztlich war dem damals 43jährigen Teamchef klar: Er kommt an einem Bezahlfahrer nicht vorbei.
Ich muss immer ein wenig schmunzeln, wenn heute über die so genannten Bezahlfahrer gelästert wird. Denn einige der grössten Stars haben ihre GP-Debüts bezahlt erhalten: Wer kam denn bitteschön für Reise und Fahrzeug auf, als Juan Manuel Fangio in den 40er Jahren nach Europa kam? Der Staat Argentinien. Wer trug das Risiko, als sich Niki Lauda mit vollem Risiko in die Formel 1 ellbögelte? Eine Bank. Welche Gönner hielten Michael Schumacher den Steigbügel zum ersten Grand-Prix-Einsatz in Belgien? Mercedes-Benz und Willi Weber.
Jordan hatte schon vom jungen Deutschen gehört. Schumi hatte im Vorjahr beim Formel-3-Rennen von Macau triumphiert und fuhr im Junior-Team von Mercedes-Benz in der Sportwagen-WM.
Zudem gab es einen Kontakt zwischen Jordan und Schumacher-Manager Willi Weber, weil Weber mit dem Gedanken spielte, vielleicht den Formel-3000-Rennstall von Jordan zu übernehmen.
Weber setzte sich mit Jordan in Kontakt, und die Worte von Eddie sind legendär, als der umtriebige Willi seinen Schützling anpries: «Michael who?»
Es folgte eine kleine, gepflegte Notlüge. Auf die Frage von Eddie, ob Schumacher denn Erfahrung in Spa-Francorchamps besitze, meinte Willi Weber, aber klar doch, der sei schon Dutzende Male dort gewesen. In Wahrheit hatte Michael Spa-Francorchamps – die Strecke, die sein Rennwohnzimmer werden sollte – noch nie von nahem gesehen.
Willi Weber liess nicht locker und deckte Jordan mit Anrufen ein.
Eddie tendierte noch immer zu Keke Rosberg. Aber auch der damalige Jordan-Teammanager Trevor Foster riet seinem Chef zu Michael Schumacher.
Der klamme Jordan liess sich den ersten Formel-1-Test von Michael Schumacher, am Dienstag vor dem Belgien-GP, auf dem kleinen Kurs von Silverstone, mit 80.000 Pfund bezahlen. Die Zeche beglich Willi Weber.
Nach dem Sportwagen-WM-Lauf auf dem Nürburgring flogen Schumacher, Mercedes-Sportchef Jochen Neerpasch und Weber nach England.
Einen Tag darauf schlüpfte Michael Schumacher in den grünen Overall von Stammfahrer Andrea de Cesaris. Gemessen an heutigen Verhältnissen war die Jordan-Delegation in Silverstone lächerlich: Teammanager Foster, PR-Chef Ian Philipps, drei Mechaniker, fertig.
Foster gab später zum ersten Test zu Protokoll: «In der zweiten Runde rauschte Michael mit glühenden Bremsscheiben an uns vorbei durch die Schikane. Er wirkte wie ein Fisch im Wasser. Angesichts seiner Fahrweise geriet ich ein wenig ins Schwitzen. Ich teilte Willi Weber mit, er solle seinen Piloten bitteschön beruhigen. Im Auto steckte der Motor, mit dem wir in Belgien fahren wollten. Einen Motorschaden konnten wir uns nicht leisten. Weber sprach mit Schumacher, und Michael wunderte sich – er meinte, er habe noch nicht mal richtig angefangen.»
Foster liess Schumacher noch eine Zehnerserie fahren, dann holte er ihn aus dem Wagen und eilte zum nächsten Telefon (merke: noch keine Handys). «Ich erklärte Jordan, dass Schumacher schneller gefahren sei als es de Cesaris und Gachot hier je waren.»
Für Belgien wurde der Vertrag aufgesetzt: 150.000 Pfund. Garantiert von Mercedes-Benz.
In Belgien angekommen, war es Zeit für eine Beichte. Willi Weber musste zunächst Michael Schumacher eröffnen, dass er Eddie Jordan mit den Streckenkenntnissen einen Bären aufgebunden hatte. Dann musste er dem Teamchef reinen Wein einschenken.
«Ich sagte ihm einfach, dass ich mich in der Strecke getäuscht hatte – Michael kenne Zolder, nicht Spa-Francorchamps.»
Jordan war wenig angetan, aber Weber konnte den erzürnten Teamchef beruhigen: «Er fragte mich, was um alles in der Welt wir nun tun sollen. Ich sagte – gar nichts, lass den Jungen fahren, und alles wird gut.»
Stammfahrer Andrea de Cesaris witterte Ungutes. Teammanager Trevor Foster bat den Römer, den deutschen Neuling im Mietwagen um den Kurs zu chauffieren, aber der Italiener fand eine Ausrede um die andere, die Pistenbesichtigung fand nie statt.
Michael Schumacher, ganz Pragmatiker, zuckte mit den Achseln, holte ein Klapprad aus dem Kofferraum seines Mercedes-Dienstwagens und pedalte los.
Vom Glamour der Formel 1 war nicht viel zu spüren: Weil etwas mit der Hotelreservierung schiefgegangen war, nächtigten Michael Schumacher und Willi Weber in einer Jugendherberge.
Der Rest ist Formel-1-Historie: Schumacher war vom ersten Training in den Top-Ten, fuhr im Qualifying die achtschnellste Zeit, rückte wegen einer Strafe für Ricardo Patrese auf Startplatz 7 vor.
Andrea de Cesaris, als Elfter ins Rennen gegangen, hätte um ein Haar einen Podestplatz errungen, aber dann verrauchte der Cosworth-Motor kurz vor Schluss.
Wo Michael Schumacher seinen ersten Grand Prix hätte beenden können, haben wir nie erfahren: Kurz nach dem Start schon auf Rang 5 rollte der Jordan nach der Eau Rouge aus – Kupplungsschaden.
Ein Jahr später gewann er in Spa-Francorchamps seinen ersten Grand Prix. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.