Zum Tod von Anthoine Hubert: Sicherheit als Illusion
So wollen wir Anthoine Hubert in Erinnerung behalten: als tollen Racer und als Hoffnungsträger für Frankreich
Es ist längst Nacht, als ich an diesem Samstagabend, 31. August, das Formel-1-Fahrerlager des Circuit de Spa-Francorchamps verlasse. Nur noch wenige Menschen sind anzutreffen. Bei Renault sitzen drei Männer am Tisch, der Blick auf Punkte fixiert, die nur sie kennen. Ich bleibe einen Moment stehen. Keiner von ihnen spricht ein Wort. Was gibt es auch zu sagen für die französische Rennlegende Alain Prost, für Renault-Teamchef Cyril Abiteboul, für ART-Teamgründer Fred Vasseur? Sie alle haben Anthoine Hubert gekannt, sie alle haben mit dem 22-Jährigen gearbeitet, jetzt ist dieser vielversprechende junge Mann tot, verstorben nach einem fürchterlichen Crash im Hauptrennen der Formel 2.
Lewis Hamilton hat sich am Samstagabend an seine Fans gewandt. Der fünffache Formel-1-Champion brachte das sehr gut auf den Punkt: «Wenn ein Einziger von euch, der diesen Sport beobachtet und geniesst, auch nur eine Sekunde lang denkt, dass das, was wir tun, sicher ist, dann irrt er sich gewaltig.»
Absolute Sicherheit im Rennsport ist eine Illusion, Kohlefaser-Monocoque hin, Titan-Kopfschutz Halo her.
Es wird immer Unfälle geben, welche auch die besten Vorkehrungen der Rennexperten aushebeln. Der Formel-2-Unfall von Anthoine Hubert in Runde 2 des Hauptrennens in Spa-Francorchamps war ein solcher Unfall.
Hubert war seitlich in die Pistenbegrenzung gekracht, bei Raidillon, gleich nach der berüchtigten Eau-Rouge-Senke. Die Untersuchung der FIA wird zeigen, wieso er die Kontrolle über seinen Renner verloren hatte. Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass er dem Wagen seines Landsmannes Giuliano Alesi ausweichen wollte, der mit einem Reifenschaden langsam unterwegs war. Als der Sohn des früheren GP-Piloten Jean Alesi seinen Wagen ausrollen liess, fehlte der Heckflügel, möglicherweise ein Streifschuss von Hubert. Anthoines Wagen schleuderte nach dem ersten Aufprall rechts auf die Bahn zurück und wurde mit voller Wucht vom daherschiessenden Renner von Juan Manuel Correa getroffen.
Selbst die Überlebenszellen in den Nachwuchsserien sind gemessen an den Rennwagen von früher unfassbar widerstandsfähig geworden. Aber jede Belastung hat ihre Grenzen, und wir sind längst am Punkt angelangt, an welchem bei gewissen Unfällen der Mensch das schwächste Glied geworden ist. Der Wagen von Hubert wurde in drei Teile zerfetzt, als er von Rennfahrzeug von Correa torpediert wurde. Angeblich soll beim fürchterlichen Aufprall die linke Seite des Monocoques am Wagen von Hubert aufgerissen worden sein.
Es gibt kein Rennauto der Welt, das fast im Stillstand einem Aufprall widersteht eines anderen Fahrzeugs, das mit gut 270 km/h dahergeschossen kommt. Und selbst wenn die Zelle intakt bliebe – kein menschlicher Körper überlebt einen solchen Zusammenstoss.
Anthoine Hubert, der Hoffnungsträger
Vielleicht stösst die Tragödie die Diskussion an, ob asphaltierte Auslaufzonen nicht überdenkt gehören. In den Köpfen gerade der heissblütigen Nachwuchsfahrer ist verankert: «Mir kann so gut wie nichts passieren.» Ein gefährlicher Trugschluss. Früher dachten die Piloten aus Erfahrung anders. Im Mittelalter des Sports standen an jener Stelle Bäume. Wer von der Piste abkam, riskierte sein Leben. Die einzige Knautschzone war der eigene Körper. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir an vielen Stellen Kiesbetten. Wer von der Piste abkam, riskierte einen Überschlag.
Ich kann nicht behaupten, dass ich Anthoine Hubert gut gekannt hätte. Wir haben uns einmal kurz unterhalten. Ich mochte das Glitzern in seinen Augen, als er davon sprach, dass er in die Nachwuchsförderung von Renault aufgenommen worden war. Ich spürte seinen Hunger. Jeder entlang der Rennpiste konnte sehen, welches Talent hier heranwächst.
Die Brille gab Hubert immer ein leicht unschuldiges, fast schon schüchternes Aussehen. Aber am Lenkrad war fertig mit schüchtern. Anthoine galt als überaus fairer, aber harter Gegner. Aus Renault-Kreisen war zu spüren: Hier wächst ein kommender GP-Sieger heran.
Es wäre der erste aus Frankreich seit 1996 und Olivier Panis in Monaco. Schwer zu glauben, wie lange die Grande Nation schon auf einen erneuten Sieg warten muss. Die französische Rennlegende Alain Prost hielt grosse Stücke auf Hubert. Mit Esteban Ocon für 2020 und 2021 sowie Hubert als Versprechen für die Zukunft hatte Renault zwei tolle Hoffnungsträger aus dem eigenen Land unter Vertrag.
Nun ist das Leben von Hubert nach nur 22 Jahren erloschen. Dunkle Erinnerungen sind schlagartig wieder da: Etwa an Jules Bianchi, der nach einem üblen Unfall in Suzuka 2014 ins Koma fiel und dessen Herz im Juli 2015 aufhörte zu schlagen.
Schutzengel im Dauereinsatz
1994 wurde der Sport am schwarzen Imola-Wochenende in seinen Grundfesten erschüttert: Am Freitag ein schwerer Unfall von Rubens Barrichello, der mit Glück keine gravierenden Verletzungen davontrug; am Samstag im Abschlusstraining der tödliche Unfall von Roland Ratzenberger; am Sonntag dann «fiel die Sonne vom Himmel», wie es Gerhard Berger bezeichnete, wir verloren Ayrton Senna, für viele der grösste aller Formel-1-Fahrer.
Knapp zwei Wochen danach lag der Tiroler Karl Wendlinger nach einem Trainingsunfall in Monte Carlo mehr als zwei Wochen lang im Koma, zum Glück hat sich der damalige Sauber-Fahrer wieder ganz erholt.
Die Formel 1 reagierte umgehend, die Sicherheitsbestimmungen wurden verschärft, die jahrelange, bis heute anhaltende Arbeit war der Grund, wieso wir bis Bianchi keinen Piloten verloren haben.
Aber die Formel 1 blieb immer brandgefährlich, das Gleiche gilt für die Rennen der Formel 2 (vormals GP2) und Formel 3 (vormals GP3) im Rahmenprogramm. Nur dank verbesserter Autos und optimierter Strecken gingen zahlreiche schwere Unfälle für die Fahrer glimpflich aus, und der Schnitter musste das Fahrerlager unverrichteter Dinge verlassen.
Um genau zu sein, ist es ein kleines Wunder, dass wir in all den Jahren nicht viel mehr Fahrer verloren haben – die Schutzengel standen im Dauereinsatz.
Mika Häkkinen überlebte einen Trainingsunfall in Adelaide 1995 lediglich dank der medizinischen Schutzengel der Formel 1, allen voran dank des 2012 verstorbenen Professors Sid Watkins, zusammen mit dem früheren FIA-Präsidenten Max Mosley eine Triebfeder hinter den ständigen Bemühungen, Risiken zu minimieren. Häkkinen lag im Koma, kehrte aber auf die Rennstrecken zurück und wurde 1998 und 1999 mit McLaren-Mercedes Weltmeister.
Michael Schumacher erlitt 1999 in Silverstone beim Aufprall in einen Reifenstapel Beinbrüche und sprach später von einer Nahtod-Erfahrung. «Ich spürte, wie mein Herz langsamer und langsamer schlägt.»
2000 und 2001 kamen Streckenposten ums Leben, die ungefeierten Helden im Rennsport: In Monza 2000 wurde Paolo Gislimberti nach einem Massencrash von herumfliegenden Teilen getroffen und erlag später seinen Verletzungen. In Melbourne 2001 wurde Graham Beveridge von einem Rad erschlagen, das nach der Kollision zwischen den Autos von Jacques Villeneuve und Ralf Schumacher durch eine Lücke im Schutzzaun geschossen war.
In Spa-Francorchamps 2001 schoss der Prost-Renner von Luciano Burti mit fast 300 km/h in die Reifenstapel. Der Brasilianer zog sich eine schwere Gehirnerschütterung und Hirnblutungen zu und brauchte fast zwei Jahre, um sich von den Folgen des Unfalls zu erholen.
Viele dachten nach dem grauenvoll aussehenden Crash von Robert Kubica in Montreal 2007, dass der BMW-Sauber-Fahrer das unmöglich überlebt haben konnte. Aber auch der Pole kam mit verhältnismässig leichten Blessuren davon, ein Jahr später gewann er am gleichen Ort seinen einzigen Grand Prix.
Felipe Massa wurde im Training zum Ungarn-GP 2009 von einer Schraubenfeder aus dem Heck des BrawnGP-Renners von Rubens Barrichello getroffen und am Kopf schwer verletzt. Nur wenige Zentimeter weiter unten, und man hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Der Brasilianer erholte sich vollständig.
Im Juli 2012 konnte die Spanierin Maria de Villota bei Testfahrten mit Marussia in England aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen nicht rechtzeitig anhalten und krachte in die heruntergelassene Laderampe eines Lkw. Sie zog sich schwere Kopfverletzungen zu, verlor ein Auge sowie den Geruchs- und Geschmackssinn. Im Oktober 2013 wurde sie tot in einem Hotel in Sevilla aufgefunden, die Gerichtsmediziner kamen zum Schluss, dass sie an den Folgen des Testunfalls verschieden ist.
In Belgien 2012 flog der Lotus von Romain Grosjean über den Ferrari von Fernando Alonso. Verschiedene TV-Blickwinkel zeigten – der Spanier konnte von Glück reden, dass er vom Rennwagen des Genfers nicht erschlagen wurde.
2013 starb Mark Robinson, als nach dem Kanada-GP der Sauber-Renner von Esteban Gutiérrez abtransportiert wurde. Der Streckenposten war gestolpert und vom Kranwagen überrollt worden.
Die Liste soll zeigen: Es ist möglich, die Risiken in der Formel 1 zu verringern, aber es bleibt unmöglich, die Gefahr zu verbannen.
Für viele kam der Unfall von Jules Bianchi im Oktober 2014 wie ein Hammerschlag. Eine neue Generation von Fans und Berichterstattern ist seit Imola 1994 herangewachsen, eine Generation, die den Tod als Fahrerlagergast nicht kannte, eine Generation, die im Frühling 1994 nicht fassungslos vor dem Fernseher sass, geschweige denn wie einige meiner Arbeitskollegen und ich vor Ort erlebten.
Oft habe ich selbst Fachleute sagen gehört: «Ach, in der Formel 1 kann doch nichts mehr passieren.» Ein trügerischer, kurzsichtiger, dummer Gedanke, der mich immer ärgert. Denn es bedurfte nur verschiedener Faktoren, die aufeinandertrafen, um wieder einen Formel-1-Toten beklagen zu müssen. Jules Bianchis Unfall in Japan war ein solcher Unfall.
Jules Bianchi: Ein vermeidbarer Tod
Seit Jahren hatten die Rennfahrer betont, wie unwohl sie sich fühlen, wenn sie an einer Unfallstelle vorbeifahren, wo Rettungsfahrzeuge auf oder neben der Strecke im Einsatz stehen, so wie bei Bianchis Unfall am Wagen von Adrian Sutil. Aber erst nach dem Unfall von Jules wurde das so genannte «virtuelle Safety-Car» eingeführt, wenn das Rennen neutralisiert ist und die Piloten in konstant niedrigem Tempo fahren.
Die Organisatoren und Rennpromoter Bernie Ecclestone wussten 2014, dass ein Taifun schlechtes Wetter in die Region Suzuka bringen würde. Aber der vernünftige Vorschlag, das Rennen vorzuziehen, um Regen und einbrechender Dunkelheit zu entgehen, wurde aus wirtschaftlichen Gründen verworfen. Man fürchtete, es würden nicht alle Fans rechtzeitig zur Strecke kommen, dazu gab es Sachzwänge mit gebuchten Satellitenzeiten.
Die Wetterverhältnisse änderten sich im Japan-GP mehrfach, und ausgerechnet als die meisten Piloten mit abgefahrenen Intermediates-Reifen unterwegs waren, begann es wieder stärker zu regnen.
Kein Fahrer will sich vorwerfen lassen, freiwillig Sekunden hergeschenkt zu haben – zahlreiche Piloten fuhren an der Unfallstelle Sutils viel zu schnell durch, auch Jules Bianchi. Ich habe Mühe damit, einem Piloten Mitschuld an einem so tragischen Unfall zu geben, aber ich kann es auch nicht wegreden.
Die Rennleitung verzichtete nach dem Unfall von Sauber-Fahrer Adrian Sutil auf den Einsatz des Safety-Car.
Bianchi geriet mit seinem Wagen, genauer mit dem rechten Hinterrad auf eine Pfütze, er korrigierte instinktiv, das führte dazu, dass der Wagen die Piste in einem ungewöhnlichen Winkel verliess.
Es kann nur unfassbares Pech genannt werden, wie sein Wagen dann den tonnenschweren Rettungswagen traf.
Nur ein oder zwei Faktoren weniger, und der Franzose wäre noch unter uns. Nur ein anderer Winkel beim Einschlag, eine andere Reaktion der Fahrer, und Anthoine Hubert wäre vielleicht noch am Leben.
«Motorsport is dangerous» steht auf jedem Zugangspass der Fachleute an den GP-Rennstrecke, ob für Formel 1, Formel 2 oder Formel 3.
Wir sollten das nie vergessen.