Helmut Zwickl: Mein Seilgefährte, mein Vorbild
Helmut Zwickl (Mitte) mit den Porsche-Werksfahrern Gerhard Mitter und Udo Schütz am Nürburgring 1969
Wir leben in einer Epoche der Selbstverliebtheit und des ständigen Lamentierens. Der Narzissmus zeigt sich in diesem unsäglichen Drang, sich ständig selber abzulichten und das sofort in den verschiedenen, vermeintlich sozialen Netzwerken der ganzen Welt präsentieren zu müssen. Ich habe mein Archiv durchforstet. Ich habe unsere früheren Fotografen-Freunde gefragt. Aber nichts da: Ich finde kein einziges Bild, das Helmut Zwickl und mich Seite an Seite zeigt, als Seilgefährten am Grand-Prix-Schauplatz. Wieso nicht? Erstens, weil sich der Berichterstatter damals nicht in den Mittelpunkt stellte; zweitens, weil wir unsere Arbeit wichtig nahmen und keine Zeit für solchen Schnickschnack hatten.
Und wie ist das nun mit dem Lamentieren? Wenn ich mich in meiner Schweiz so umhöre, wird über alles gejammert – übers Wetter, über die Politiker, über das ach so schwere Leben im Allgemeinen. In Österreich ist das ungefähr ähnlich. Einer der Gründe, warum ich Helmut Zwickl über die Masse schätze: Er konnte Zusammenhänge immer in die richtigen Proportionen rücken. Wenn wir gemeinsam in São Paulo zur Interlagos-Rennstrecke hochgefahren sind, kamen wir an einer Brücke vorbei. Unter der Brücke lebten Menschen in Kartonschachteln. Wenn wir im Stau standen und zur Seite blickten, waren wir Auge in Auge mit Menschen, die nicht wussten, wie sie ihr nächstes Essen beschaffen sollen. Ich dagegen wurde dafür bezahlt, rund um die Welt zu fliegen, um von Formel-1-Rennen zu berichten, und ich hatte dabei das Privileg, neben meinem journalistischen Vorbild zu sitzen. Da gibt es nichts mehr zum Jammern.
Unvergessen, wie Helmut seine Berichte in eine erstaunlich widerstandsfähige Baby-Hermes tippte. Und sein verlässlicher Otto Burghart das Manuskript einer vom Fachwissen unbelasteten Telex-Spezialistin brachte, um einen Lochstreifen herstellen zu lassen. Später staunten wir über das Wunder Telefax. Die heutigen Kids würden sich über die Steinzeit der Telekommunikation schieflachen. Wenn sie es uns überhaupt abkaufen würden, womit wir uns abmühten.
Es wurde ein kleines Ritual, sich kurz vor dem Start die Hand zu drücken, kurz und fest: «Gutes Rennen!» So als würden sich Helmut und ich gleich selber in den Pulverdampf eines WM-Laufs stürzen, zusammen mit 24 anderen Rennfahrern (ja, damals hatten wir ein Feld aus 26 Autos). Wir haben uns immer als Seilgefährten verstanden, weil wir wussten – wir können uns in jeder Situation auf den Anderen verlassen und ihm vertrauen. Das ist für mich die Definition von Freundschaft.
Wieso ich Helmut bewundere: Für seine wunderbare Sprache, für seinen «Wiener Schmäh», für einen Humor, trocken wie ein guter Martini, für sein Fachwissen, für seine Hingabe, für die Gabe, sich selber nicht so ernst zu nehmen, für seine Bereitschaft, seine Erinnerungen bei langen Abendessen zu teilen, für seine Fähigkeit, den Menschen das gute Gefühl zu geben, fair behandelt zu werden. Eine Recherche wie für das Buch «Weltmeister durch technischen k.o.» über die Langstrecken-Saison von Porsche 1969 wäre heute überhaupt nicht mehr möglich. Helmut erhielt jeden Zugang, denn die Porsche-Truppe wusste: Dieser Mann ist hart, aber immer fair, und er kann schweigen wie eine Gruft.
Wenn Helmut im Kreise von Familie und Freunden seinen 80. Geburtstag feiern darf, berichte ich in Mexiko-Stadt aus dem Autódromo Hermanos Rodríguez. Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Helmut in Mexiko am Frühstückstisch. Eine aparte Dame bringt einen Teller mit Eiern und Speck und Bohnen, einer Tomate, «the full Monty» eines englischen Frühstücks halt. «Caliente, caliente!» sagt sie mit Nachdruck und überreicht mit einem zauberhaften Lächeln den Teller, und Helmut findet: «So eine nette Frau, was immer sie auch sagt.» Kurz darauf fliegt der Teller quer über den ganzen Tisch, nach einer Nanosekunde fallengelassen aus ahnungslosen Wiener Händen, das Essen spritzt in alle Windrichtungen, und seither weiss Helmut, dass «caliente» übersetzt «heiss» bedeutet.
Helmut Zwickl hat in einer Phase aus der Formel 1 berichtet, in welcher die Fahrer den Fan mit auf die Reise nehmen konnten. Mein Seilgefährte würde anhand der modernen Phrasen das Gesicht eines mürrischen Wolfs aufsetzen und die Nackenhaare sträuben, vielleicht auch knurren. Zum Glück haben er und ich eine Zeit erlebt, da konnten wir zu einem Formel-1-Fahrer hingehen, einfach so, ihm eine Frage stellen, und wir haben tatsächlich so etwas wie eine brauchbare Antwort erhalten. Heute hetzen die meisten Piloten zwischen Box und Team-Gebäuden hin und her, um auch ja nicht von aufsässigen Berichterstattern angesprochen zu werden. Kimi Räikkönen nimmt schon mal das Handy ans Ohr, auch wenn überhaupt niemand dran ist. Funktioniert jedes Mal.
Wir leben im Zeitalter der Medien-Behinderer. Diese Damen und Herren haben (aus mir teilweise nicht nachvollziehbaren Gründen) die Arbeit eines Pressedelegierten erhalten, aber statt ihre Fahrer in die Auslage zu stellen, wird für sie geredet, oder sie zerren die bevormundeten Piloten nach fünf Minuten zum nächsten Termin weiter. Ab und an wird uns sogar vorher gesagt, auf welche Fragen wir bitteschön verzichten wollen. So viel zur Pressefreiheit.
So ungefähr mit Michael Schumacher begann das Zeitalter der Verschleierung. Auf Fragen nach Veränderungen der Abstimmung pflegte Schumi zu sagen: «Hinten haben wir was verstellt.» – «Ja, schon, aber was, Michael?» – «An der Aufhängung.» – «Aha, und was an der Aufhängung?» – «Wir gingen mit den Dämpfern härter.» Also, geht doch, wieso nicht gleich?
Helmut hat mit Fahrern wie Jochen Rindt, Niki Lauda oder Nigel Mansell Freundschaften entwickelt, die auf Vertrauen und Verschwiegenheit basierten. Die Rennfahrer spürten: Helmut verfolgt keine versteckten Pläne, sondern ist der Wahrheit und der Liebe zum Motorsport verpflichtet. Das verband Racer und Berichterstatter.
Viele Fahrer und Teamchefs haben das Herunterbeten von Worthülsen zur Kunstform erhoben. Sie reden, aber sie sagen nichts. Einige geben an gewissen Tagen nur noch TV-Interviews, die Zeitungs- und Internet-Journalisten gucken in die Röhre. Da hilft ein Medien-Communiqué des Rennstalls nicht die Bohne. «Heute war ein produktiver Tag», wird da einem Fahrer in den Mund gelegt, wo alle doch sehen konnten, dass er im Allgemeinen hinterherfährt und im Besonderen sein Auto in die Botanik gepfeffert hat. Das wäre eine Steilvorlage für Helmut zu einer saftigen Kolumne!
Ich stelle mir gerne vor, was die Rennställe mitteilen und wie die Übersetzung von Helmut in die Wahrheit aussehen würde.
«Der Wagen ist noch in einem frühen Stadium der Entwicklung.»
(Wir haben ein wirklich grottenschlechtes Auto gebaut und keine Ahnung, was wir damit anstellen sollen.)
«Wir hatten eine kleine technische Angelegenheit, die uns zwischendurch am Fahren gehindert hat.»
(Feuer! Feuer! Feuer! Alle Mann in Deckung!)
«Die Probleme haben uns an der Vorbereitung nicht gehindert.»
(Besser als jetzt wird es nicht mehr.)
«Die Zeiten von Freitag sind nicht aussagekräftig.»
(Die Zeiten sind überaus aussagekräftig, und am Samstag werden wir über Quali 1 nicht hinauskommen.)
«Das Feedback unseres neuen Fahrers XYZ ist exzellent.»
(Oh Gott, der Kerl ist nicht nur langsam, er ist auch noch strunzdumm. Immerhin ist er reich.)
«Offenbar gibt es Raum für Verbesserungen.»
(Es gibt keine Chance auf Besserung.)
«Wir versuchen noch immer, die Reifen zu verstehen.»
(Wir verstehen die Reifen nicht und werden es auch nie.)
«Die Leistungsdichte im Mittelfeld ist sehr hoch.»
(Wir werden WM-Neunter.)
«Die Strecke von Melbourne ist nicht repräsentativ.»
(In Barcelona werden wir noch schlechter sein.)
«Heute war ein guter Tag.»
(Heute war ein grauenvoller Tag.)
Helmut hat das einmal so auf den Punkt gebracht: «Die menschliche Komponente der Fahrer wird immer minimaler. Die heutigen Piloten sind geklonte Kart-Kids, sie liefern keine Beiträge mehr aus dem Grenzbereich, den wir früher fasziniert protokollieren konnten. Heute erzählt niemand mehr etwas. Entweder er kann es nicht oder er will es nicht oder er darf es nicht – jedenfalls entsteht damit ein Dialog des Schwachsinns.»
Helmuts Liebe zur Formel 1 hat sich ein wenig abgekühlt, als sich ein ungebetener Gast ins Fahrerlager schlich, verstohlen wie ein Dieb: die politische Korrektheit. Es passte nicht zum Weltbild von Helmut, dass Fahrer nicht mehr frei von der Leber weg reden dürfen oder von Mediendelegierten bevormundet werden. PR-Gewäsch wurde von ihm schonungslos entlarvt und zersetzt, mit Worten so scharf wie Salzsäure. Irgendwann war es ihm leid, von Teenagern stromlinienförmige Antworten zu erhalten, und er hat der Formel 1 den Rücken gedreht.
Worum ich Helmut nie beneidet habe: Es wurde damals viel gestorben. Der Tod war ständiger Begleiter. Mir ist schleierhaft, wie Helmut damit umgehen konnte. Zwickl und ich haben Schulter an Schulter das schwarze Wochenende von Imola 1994 erlebt. Helmuts Ruhe und Professionalität waren wie der Fels von Gibraltar in tosender See, ich bewundere bis heute, wie sachlich er mit dieser Tragödie umgegangen ist. Zuerst kam der Job, für Trauer war später noch Zeit.
Ach ja, und wie war das nun mit dem Erdbeben?
Helmut und ich sitzen in Suzuka. Der alte Presseraum war angeordnet wie der Hörsaal einer Uni, steil aufsteigend, mit Zweierbänken. Ich tippe in meinen Tandy 200, ungefähr ein Ururur-Grossvater eines modernen Laptops. Auf einmal beginnt der Tisch sich zu bewegen. Ich denke: «Muss Helmut so mit dem Bein herumhampeln? Ich treffe ja fast keine Taste mehr.» Also drehe ich mich zu Zwickl, um das Einstellen des lästigen Wippens anzuregen. Dann wird mir schlagartig klar, was hier los ist: «Erdbeben? Ist das ein Erdbeben?» Unruhe entsteht im Saal. «Sollen wir losrennen?» Typisch Helmut, dass er auch hier sofort die Situation erfasste: «So lange die Menschen auf der Haupttribüne nicht losrennen, rennen auch wir nicht los.»
Seilgefährten eben.