Ross Brawn über Ferrari: «Lauter verpasste Chancen»
Die Tifosi müssen einmal mehr vertröstet werden: Seit 2007 und Kimi Räikkönen hat es keinen Fahrer-WM-Titel mehr gegeben für das berühmteste aller Formel-1-Teams, seit elf Jahren sind die Italiener ohne Konstrukteurs-Pokal. F1-Sportchef Ross Brawn, von 1997 bis 2006 Technik-, dann Teamchef von Ferrari, bringt das sehr schön auf den Punkt: «Man hätte gewiss von Ferrari mehr erwarten dürfen, sie hatten eine Saison voller Höhen und Tiefen.»
«Beim Wintertest in Spanien sah alles so vielversprechend aus, aber im Frühling verschwand der Optimismus und machte Enttäuschung Platz. Letztlich ist die WM-Saison von Ferrari eine Ansammlung von lauter verpassten Chancen», findet Brawn in seiner Nachbesprechnung des Abu Dhabi-GP.
«Im ersten Saisonteil dominierte Mercedes, nach der Sommerpause aber erlebten wir ein anderes Ferrari, mit sechs aufeinanderfolgenden Pole-Positions von Belgien bis Mexiko. Ferrari gewann auch drei Mal in Folge, mit dem Triumph von Charles Leclerc in Monza als Highlight. Nach diesem Sommerhoch folgten wieder eher schwierige Rennen, so wie nun beim Finale von Abu Dhabi.»
«In seinem ersten Jahr als Ferrari-Teamchef hat Mattia Binotto eine richtige Feuertaufe erhalten. Ich schätze, es gibt in der Formel 1 keinen Rennstallchef, der mehr unter Druck steht. Ich bin aber davon überzeugt, dass er als Führungspersönlichkeit und Techniker alle Fähigkeiten mitbringt, um Ferrari Richtung WM-Titel zu bringen.»
«Der positivste Aspekt von Ferrari heisst Charles Leclerc. In seinem zweiten Formel-1-Jahr ist er sieben Mal von Pole-Position ins Rennen gegangen, öfter als jeder andere Pilot, er hat zehn Podestränge eingefahren und zwei Mal gewonnen. Über seine Begabung brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Es scheint seine Bestimmung zu sein, einer der Stars der kommenden Dekade zu werden.»
«Gewiss, es gibt Raum für Verbesserung. Was nur normal ist im zweiten Jahr einer GP-Karriere. Doch Charles hat es geschafft, einen vierfachen Weltmeister wie Sebastian Vettel in Bedrängnis zu bringen. Ich bin sicher, Seb erinnert sich an 2014, als das Gleiche bei Red Bull Racing passierte, mit dem jungen Daniel Ricciardo.»
«Damals hatte Vettel nach einem Jahr genug gesehen und wechselte zu Ferrari. Dieses Mal wird er das nicht machen, ihm steht 2020 ein weiteres Duell mit Leclerc bevor. Das ist für beide Fahrer eine interessante Aufgabe, und Mattia Binotto wird die beiden Ausnahmekönner sehr behutsam führen müssen, um die Bedürfnisse von Ferrari zu erfüllen.»
«Aber die grösste Aufgabe von allen wird darin bestehen, Vettel und Leclerc ein konkurrenzfähiges Auto zu geben, auf jeder Art von Rennstrecke. Darüber hinaus muss Ferrari Probleme mit der Standfestigkeit in den Griff bekommen.»