Willkommen in Sotschi: Erste Eindrücke aus Russland
Die Olympia- und Rennanlage von Sotschi
Der Formel-1-Tross freut sich generell immer auf einen neuen Austragungsort, denn neu bedeutet: frische Eindrücke. Aber die Reise nach Russland steht unter einer dunklen Wolke. Wo wir im Fahrerlager gehen und stehen, wird über Jules Bianchi geredet, und die ganze Grand-Prix-Familie befindet sich in einem Zustand grösser Sorge. Und dennoch geht der Rennzirkus in gewisser Weise zur Tagesordnung über. The show must go on.
Sotschi also – eine seltsame Stadt eigentlich, die sich über 100 Kilometer entlang des Schwarzen Meeres zieht. Sie liegt in der Region Krasnodar nahe der Grenze zu Georgien und Abchasien, rund 370.000 Menschen leben hier. Im Sommer jedoch vervielfältigt sich das – Sotschi ist einer der beliebtesten Badeorte von Russland, die Umgebung der Stadt ist die Russische Riviera. Anfang des 20. Jahrhunderts begann Sotschis Entwicklung zum Kurort der russischen Oberschicht. Es wurden Sommerhäuser im Jugendstil erbaut, von namhaften Moskauer und Petersburger Architekten. Es tauchten auch die ersten Hotels auf. Gut 100 Jahre später würde die Oberschicht Sotschi nicht wiedererkennen …
Gestern Abend spät schwebte unser Aeroflot-Jet aus Moskau über der Olympiastadt herein. Die ganze Anlage, wo vor knapp acht Monaten die Winterspiele stattgefunden haben, war in verschiedenen Farben beleuchtet, ein eindrucksvolles Spektakel.
Die meisten Fachkräfte aus der Formel 1 haben in den Hotels auf der Olympia-Anlage selber eingecheckt. Die Hotels sind blitzsauber, wirken aber seltsam seelenlos und steril. Ein schlossartiges Gebäude (auf unserem Bild im Vordergrund zu sehen) ist ein 260-Betten-Haus in einem Lunapark.
Das ganze Personal – egal, ob im Hotel oder an der Rennstrecke – ist bemüht, alles richtig zu machen. Die grösste Hürde ist nicht ein Mangel an Höflichkeit oder Hilfsbereitschaft, sondern die Sprache: Unser Russisch ist so gut wie inexistent, die meisten Russen sprechen kaum Englisch. Wir behelfen uns mit Händen und Füssen, und am Ende klappt das Meiste.
Wir sind vom Hotel zu Fuss zur Rennstrecke marschiert, um den grossen Lunapark herum. Überhaupt wirkt das ganze Gelände wie ein Freizeitpark. Obschon alles hier kaum ein Jahr alt ist, überzeugt die Bausubstanz wenig: vieles scheint zusammengeschustert oder zerfällt schon wieder. Wie wird das in zehn Jahren aussehen?
Das Problematischste bislang war die Sicherheitskontrolle: Wir haben bei einer Kontrolle – strenger als am Flughafen – eine Viertelstunde verbracht, und in meiner Kolonne standen nur fünf Personen. Wie soll das werden, wenn 50.000 Menschen kommen?
Pro Kontrollpunkt steht ein halbes Dutzend Soldaten, Frauen wie Männer, in Uniform. Sie sehen nicht so aus, als ob wir einen Scherz risikieren sollten. Handy und Laptop müssen angestellt werden, um zu sehen, ob es sich nicht um Attrappen handelt.
Das Fahrerlager ist ein Bienenstock: Viele Teammitglieder sind wegen des Taifuns Phanfone mit Verspätung und auf Umwegen nach Sotschi gekommen, dies gilt es nun aufzuholen. Die Zollformalitäten in Russland sind auch nicht die Einfachsten. So ist es den Rennställen nicht gestattet, neues Material aus Europa einzufliegen. Was in Japan eingesetzt wurde, wird auch in Russland eingesetzt. Das ist auch der Grund, wieso Marussia kein neues Chassis einfliegen lassen kann.
Über die Rennanlage selber lässt sich nichts Negatives sagen. Die Pistenführung ist interessant, ich schätze, die Fahrer werden den Kurs mögen, die Arbeitsbedingungen sind makellos.
Wir haben ein Wochenende bei besten Bedingungen vor uns – mit meist sonnigem Wetter und Temperaturen zwischen 22 und 25 Grad.
Eigentlich wäre alles prima – wenn da nur nicht die allgegenwärtige Sorge um Jules Bianchi wäre ...