Jenson Button: «Skurrile Helm-Regel Gewöhnungssache»
Jenson Button
Zum Saisonbeginn 2016 hin erzeugten diese Themen heisse Köpfe: Aufregung um den Kopfschutz Halo (Heiligenschein), den Ferrari bei den Wintertests hergezeigt hatte; es ging um weitere Einschränkungen beim Funkverkehr; vor allem um das neue Qualifikationsformat, das nach zwei Rennwochenenden glücklicherweise wieder verschwand. Eine neue Regelung ging dabei unter – im Sportgesetz ist unter Artikel 1.2 von Kapitel 3 verankert, dass Fahrer auf der Strecke keine Abreissvisiere mehr wegwerfen dürfen.
Hintergrund der neuen Vorschrift: Solche Wegwerffolien können sich in Bremslufthutzen verfangen, in den Frontflügeln, in Einlässen der Airbox. Die möglichen Folgen: zu hohe Bremstemperaturen bis hin zu geplatzten Scheiben, gestörte Aerodynamik an der Vorderachse, Motorschäden.
Die Fahrer verwenden in einem Grand Prix bis zu fünf solcher Abreissvisiere, um zwischendurch wieder freie Sicht zu erhalten.
Bei einer Sitzung zwischen Teamvertretern und Charlie Whiting, dem Sicherheitsdelegierten der FIA, wurde dann in Melbourne beschlossen, das Verbot bis zum Spanien-GP aufzuschieben. Um den Helmherstellern die Möglichkeit zu geben, eine Alternative vorzuschlagen. In Barcelona dann ist die Regel erneut verzögert worden – bis Monaco.
Hier in Monte Carlo sagt McLaren-Honda-Star Jenson Button: «Im Grunde bleibt uns nichts anderes übrig, als Mittel und Wege zu finden, die alten Visier an Bord aufzubewahren. Das ist Gewöhnungssache, denn wir haben nun zwanzig Jahre lang die Visiere einfach weggeworfen. Keiner von uns Fahrern findet die Regel gut. Aber ich schätze, es ist wie damals beim Hals- und Nackenschutz HANS – den fanden zu Beginn auch alle unbequem, und nach wenigen Rennen hast du das Ding automatisch angezogen und nicht mehr daran gedacht. Wenn wir daran denken, was passieren kann, wenn sich ein Visier an einer blöden Stelle verfängt, dann geht die Regel für mich in Ordnung.»
Auf die Frage, wo Button denn die Visiere im Auto unterbringe, lacht der Weltmeister von 2009: «Wir haben verschiedene Ideen, die wir im freien Training ausprobieren werden. Einige dieser Orte kann ich leider nicht verraten, das lesen auch Kinder! Ideal zum Abreissen und das Visier irgendwo hinstopfen ist die Boxengasse. Da fahren wir nur 60 km/h, da ist es am ungefährlichsten..»
Auf die Frage, welche Strafe es setze, wenn sich ein Fahrer ans Wegwerfverbot nicht halten sollte, meint der 15fache GP-Sieger: «Darauf konnte uns die FIA noch keine schlüssige Antwort geben.»
Helmvorschrift FIA: Technik stösst an Grenzen
Peter Bürger kümmert sich um die Formel-1-Helme des japanischen Herstellers Arai. Der Deutsche erklärte uns im Fahrerlager des Circuit de Barcelona-Catalunya: «Generell ist es so, dass Abreissvisiere selber nicht verboten worden sind. Es ist lediglich untersagt, die Folien über Bord zu werfen. Nun ist es aber ganz selten möglich, ohne Abreissvisiere zu fahren. Bei den ersten vier Rennen gab es nicht so viel Theater, aber erfahrungsgemäss kommen Strecken, auf welchen es ohne dieses Hilfsmittel einfach nicht geht – Montreal, Hockenheim, Spa-Francorchamps, Monza.»
«Wir haben dann erwogen, uns eine technische Lösung aus dem Motocross auszuleihen. Da haben wir eine Art Film, der sich über das Visier verschiebt, mit zwei kleinen Spulen an der Seite. Man kann das mit einer Fotozelle verbinden: Wenn der Fahrer mit der Hand darüber wischt, dann zieht nach einem Signal des Bewegungsmelders das System den Film eine Visierbreite weiter, und der Pilot hat wieder freie Sicht. Wir hatten diese Lösung im Windkanal und haben gemerkt – das funktioniert in der Formel 1 nicht. Der Wind drang unter die Folie ein und hob ihn hoch. Die beiden Spulen an der Seite sind zudem eine aerodynamische Katastrophe. Auch die Sicherheit ist kompromittiert.»
«Es gibt derzeit keine technische Lösung als Alternative für Abreissvisiere. Zudem hätte man diese Filmlösung bei der FIA nachhomologieren lassen müssen. Das ist alles sehr kompliziert.»
«Daraufhin gab es zwei Stossrichtungen. Wir denken jetzt eher darüber nach, wie man die verbrauchten Visiere im Auto unterbringen kann. Denkbar ist etwa, an der Innenseite des Cockpits ganz einfach ein doppelseitiges Klebeband anzubrnigen, und der Fahrer pappt die abgerissene Folie daran fest. Bei einem Boxenstopp kann ein Mechaniker die Folie dann rausfischen. Eine andere Möglichkeit ist eine Art Tasche, in die alte Folien gestopft werden können.»
«Aber wir forschen ja noch ganz woanders: In Russland ist Daniel Ricciardo mit dem Aeroscreen von Red Bull ausgerückt, und wenn dieser Kopfschutz, der ja mit einer Scheibe versehen ist, in der Formel 1 eingeführt wird, dann hat sich die Sache mit dem Abreissvisier sowieso erledigt.»
Abreissvisiere: Wieso die FIA handelte
Fernando Alonso musste beispielsweise vor ziemlich genau einem Jahr im Spanien-GP aufgrund eines Bremsdefekts aufgeben – wegen eines Abreissvisiers.
Zuvor gab es in der McLaren-Box eine Schrecksekunde, als der Spanier beim Boxenstopp über seinen Standplatz hinaus schlitterte, weil seine Bremsen schlappgemacht hatten. Zum Glück wurde kein Mechaniker verletzt.
Wie McLaren-Teamchef Eric Boullier nach dem Rennen bestätigte, war die Unfallursache ein Abreissvisier, das sich im Luftschacht der rechten Vorderradbremse verfangen hatte. Die Luftzufuhr zu den Bremsschreiben wurde abgeschnitten, die Kohlefaserscheibe wurde zu heiss, die Bremsflüssigkeit begann zu kochen. Der Franzose damals: «Wir haben Videomaterial, welches beweist, dass ein Visier in die Bremse geflattert ist. Es flog geradewegs in den Bremsschacht und behinderte den Luftfluss, also gab es keine Kühlung mehr, und das war der Grund, warum die Temperaturen binnen zwei Runden in den kritischen Bereich anstiegen. Die Bremsflüssigkeit überhitzte, die Bremswirkung war weg.»
Boullier erlebte das Gleiche zwei Jahre zuvor als Teamchef von Lotus. Dasselbe widerfuhr Kimi Räikönen beim Grand Prix von Belgien 2013: «Ich erinnere mich, dass dieselbe blöde Sache Kimi passierte, als ein Abreissvisier in den vorderen Bremsschacht gelangte.»
Die FIA fand nach dem Alonso-Zwischenfall: Genug ist genug.