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Giacomo Agostini: Warum er gern 40 Jahre jünger wäre

Von Gino Bosisio
Giacomo Agostini in Jerez

Giacomo Agostini in Jerez

Giacomo «Ago nazionale» Agostini, 15-facher Weltmeister, verfolgt die GP-Saison immer noch sehr aufmerksam. Er kritisiert Lorenzo, lobt Viñales und erzählt von den vielen Toten in seiner Ära.

Giacomo Agostini zählt zu den grössten Motorradrennfahrern aller Zeiten, er wird mit Hailwood und Rossi verglichen. Besonders als MV-Agusta-Werksfahrer eilte «Ago nazionale» in den 1960er und 1970-Jahren von Sieg zu Sieg.

Er häufte insgesamt die Rekordzahl von 122 GP-Siegen und 15 Weltmeistertiteln an. Die Erfolge von Giacomo Agostini sind bis heute unerreicht: Der Italiener eroberte bei 194 Starts nicht weniger als 159 Podiums-Platzierungen und 1493 WM-Punkte.

Rossi hat bei 353 GP-Starts bisher 224 Podestplätze erreicht.
Der 38-jährige Yamaha-Star hält jetzt bei 114 GP-Erfolgen. Kann Valentino den legendären Ago in den nächsten eineinhalb Jahren noch einholen?

Wenn man die letzten zwölf Monate als Maßstab nimmt, dann wird Rossi scheitern. Denn er hat seit fast einem Jahr keinen GP-Triumph erbeutet – seit Barcelona 2016. «Und wenn Valentino mich übertrifft, so hat er es verdient», zeigt Ago keine Eifersucht.

Agostini, der nach seiner MV-Agusta-Viertakt-Karriere auch noch bei Yamaha mit den 500-ccm-Zweitaktern erfolgreich war und 1978 zurücktrat, lebt mit seiner spanischen Frau Maria überwiegend in Spanien; er kam vor zwei Wochen zum Jerez-GP.

Die Kollegen von der italienischen Tageszeitung «Corriere della Sera» haben Ago zum Interview getroffen.

«Ich würde alles geben, um 40 Jahre jünger zu sein und wieder Rennen fahren zu können», gab der Italiener zu, der in Rossis Alter vom Rennsport zurücktrat und sich dann noch eine Weile in der britischen Formel-1-Meisterschaft «Aurora» beschäftigte.

Giacomo Agostini ist eine Legende, er bewegt sich mit Leichtigkeit, wirkt sportlich und durchtrainiert, er nimmt immer noch an Classic Races teil. Und er wird am 16. Juni 75 Jahre alt.

«Ago» staunt immer noch ab und zu, wenn ihn junge Leute um ein Autogramm bitten. «Ich frage sie dann zuerst, ob sie meinen Namen sagen können, um sicher zu sein, ob sie auch wirklich wissen, wer ich bin. Ich meine, wenn ich so an mein Alter denke...»

Und die andern? Erhalten die auch ein Autogramm von Ihnen?

Auch die bekommen es.

Sprechen wir von der heutigen MotoGP-WM.

Es gibt bei jedem Rennen eine Überraschung. Das gefällt mir. Italien steht ganz gut da, auch was die jungen Fahrer betrifft. Wir fielen da mal klar hinter Spanien zurück, jetzt bin ich wieder optimistischer.

Die grösste Überraschung ist sicher, dass Rossi nach vier Rennen WM-Leader war – oder?

Ehrlich gesagt, das hätte ich nicht erwartet, obwohl ich ja weiß, was für ein grossartiger Fahrer er ist. Für mich waren in Jerez nur die Reifen ein Flop und ich war gespannt, wie sie bei Yamaha in Le Mans darauf reagieren werden.

Maverick Vinales gefällt Ihnen?

Ja, auch von ihm hatte ich so einen Start bei Yamaha nicht erwartet.  Jetzt kommt es darauf an, wie er seine Emotionen im Griff hat, wenn es um die Weltmeisterschaft geht.

Wie haben Sie das jeweils gemacht?

Es war nicht einfach, nach aussen schien ich eher kalt, aber innen... Wir hatten immer den Tod vor Augen, ein Rutscher hätte gereicht. Auf der Tourist Trophy verlor ich jedes Jahr zwischen drei oder vier Kollegen nach Todesstürzen. Jedes Mal, wenn ich zurückkehrte, kam ich mir vor wie einer, der den Krieg überlebt hat.

Ihr hattet damals eine Motorrad-Bekleidung, mit der wir heute an eine Party gehen würden.

Wir waren irgendwie ja auch cool, aber Lederkombis, die 900 Gramm wogen, waren an der Tagesordnung. Ich erinnere mich an Vallelunga, als ich einmal ausgerutscht bin und dann praktisch nackt war.

Und den Ellenbogen hattet ihr nur am Boden, wenn ihr gestürzt seid.

Heute fahren sie unglaubliche Schräglagen, man ist praktisch bereits am Boden... Sollte man wegrutschen, ist der Aufprall dann auch mit mehr so heftig. Dank der heutigen Reifen sind solche Schräglagen überhaupt erst möglich.

Dieses Jahr aber scheinen sie problematisch zu sein.

Es ist absurd, die Werke investieren Millionen in die Motorräder und Fahrer – und die Reifen relativieren alles wieder.

Apropos Millionen. Wie beurteilen Sie Lorenzo bei Ducati?

Bis jetzt hatte ich schon etwas mehr erwartet und verstehe die Diskussion nicht, man wolle erst 2018 auf Titeljagd gehen.

Er müsse sich erst an das Motorrad gewöhnen, heisst es.

Naja, als ich MV Agusta verliess und zu Yamaha wechselte, das war wirklich ein komplett anderes Motorrad, brauchte ich zehn Tage, bis ich bei 100 Prozent war.
Ein Motorrad ist immer ein Motorrad. Ich nehme doch keinen Weltmeister, überzahle ihn und gebe ihm ein Jahr Zeit.

Wird Lorenzo bei Ducati erfolgreicher sein als Rossi damals?

Wer weiss das schon? Aber aufgepasst: Der Vergleich hinkt, denn die heutige Ducati ist konkurrenzfähiger als die von damals.

Was denken Sie darüber, wenn geschrieben wird, dass Rossi Ihren Rekord schlagen könnte?

Ich bin ehrlich, Rekorde wollen wir alle behalten, das ist menschlich. Ich kann ja behaupten, dass ich mir wünsche, dass es ihm gelingt, denke aber eher nein.
Nun, sollte er es trotzdem schaffen, werde ich deswegen nicht krank werden. Wenn es im Kopf stimmt, ist er sicher ein Kandidat. Aber Márquez und Viñales sind sehr schnell und zudem riskieren beide mehr. Das könnte der Unterschied sein.

Wie ist das, wenn junge Fahrer nachkommen und dich besiegen?

Als ich in den WM-Läufen nur noch Dritter oder Vierter wurde, empfand ich es wie eine Erniedrigung. Das hat mich ins Grübeln gebracht. Ich habe mich dann zum Aufhören entschlossen, aber schweren Herzens.

Ist das ein Ratschlag an Rossi?

Nein, ich rede nur von mir, vielleicht leidet er weniger als ich damals. Als ich in den Zeitungen las: «Agostini ist erledigt», ging es mir schlecht.

Sie hatten damals im Rennsport mit 18 Jahren begonnen. Wenn Sie früher hätten einsteigen können, wie viele WM-Titel wären es geworden?

Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Ich hatte viel vom Leben, denn meine Eltern wollten nicht, dass ich Rennen fahre und mein Vater hatte nur wegen eines Missverständnisses unterschrieben.

Was für eins?

Es sagte, ich unterschreibe nicht den Tod meines Sohnes, hat dann aber einen Freund, der Notar war, konsultiert und dieser sagte ihm: Unterschreibe, denn Sport tut gut.

Und was sagte der Vater später?

Gar nichts, denn die Siege gaben mir recht. Er kam immer verdeckt und heimlich an die Rennen und nie an die Box. Das war auch besser so, denn ein Profi braucht keine Ablenkungen.

Davon kommt auch diese berühmte Abstinenz vor dem Rennen. Das war sicher nicht einfach für einen Playboy wie Sie?

Als ich begriff, dass Motorradfahren mein Beruf ist, waren Freundinnen nur bis Donnerstag ein Thema, dann war Schluss. Es hat funktioniert, denn Talent alleine reicht nie.

Wenn Sie nicht Rennfahrer geworden wären, was dann?

Rennfahrer! Das Camonica-Tal ist nicht die Emilia Romagna, es gab bei uns nur wenige Motorräder und meine Familie hatte keine Tradition im Motorradsport. Trotzdem hatte ich immer dieses Gefühl, vermutlich schon im Bauch meiner Mamma.

Noch nie davon geträumt wieder zu fahren?

Ich würde alles geben, wieder 40 Jahre zurückgehen zu können. Wenn man auf einem hohen Level Sport betrieben hat, die Siege, die Fans und alles drumherum, ist es nicht so einfach. Einige werden depressiv.
Als ich aufgehört habe, weinte ich drei Tage ohne Unterbrechung.

Und am vierten?

Da sagte ich mir: Das Leben geht weiter. Aber auch heute noch gehe ich auf die Rennstrecke, wenn ich von meiner Arbeit oder meinen Verpflichtungen Abstand nehmen will.
Und ich kehre immer zufrieden zurück.

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