MotoGP: Wie stark kann der Aufwand verringert werden?
Am liebsten würden die Teams im August alle wieder fahren – zum Beispiel auf dem Red Bull-Ring
Alle MotoGP-Teams warten gespannt auf die Ereignisse der nächsten Wochen. Denn es zeichnet sich allmählich ab, dass die Weltmeisterschaft eher in Europa neu gestartet werden kann, als in Übersee-Ländern wie Amerika, Australien oder Japan. Die Luftfracht mit den 400 Tonnen Material befindet sich bereits auf dem Weg von Doha nach Spanien. Und während vor drei oder vier Wochen noch mit einem möglichen Neustart im Mai oder Juni gerechnet wurde, halten wir inzwischen wegen der anhaltend extrem schwierigen Situation in Italien, Spanien und Frankreich eher bei einem «best case»-Szenario mit einem MotoGP-Beginn im August oder September, selbstverständlich ohne Zuschauer und mit stark reduziertem Personalbestand im Paddock. Maximal 1000 Personen für drei Klassen sind angesagt – und im besten Fall acht bis zehn Events bis zum Jahresende.
Gleichzeitig muss auch ein «worst case» mit Neustart 2021 in Betracht gezogen werden. Dann würde 2020 erstmals seit Beginn der Motorrad-Weltmeisterschaft kein einziges Rennen in der Königsklasse ausgetragen.
KTM-Motorsport-Direktor Pit Beirer betont, man dürfe in der ersten April-Hälfte die Flinte nicht ins Korn werfen. Bis September könne noch viel passieren. «Wir können notfalls mit einen Sprinter und vier Mechanikern pro MotoGP-Fahrer anreisen», sagte Pit Beirer (KTM). Sein ‚worst case’ heißt neun Rennen. «Sobald wir fahren dürfen, sind wir vor Ort, egal, mit welchen Auflagen wir dann konfrontiert werden.»
Aber bisher wurden bei KTM die beiden Werksfahrer Pol Espargaró und Brad Binder von ca. 25 Technikern unterstützt. Da gibt es je einen Crew-Chief, je einen Data Recording-Spezialisten, je einen Reifenmann, je einen Benzin-Experten, die Mechanikercrew, die Aerodynamiker, die Getriebe-Ingenieure, dazu die Elektroniker, die zum Beispiel nach jeder Session für die Traction Control die «corner by corner»-Abstimmung neu ausrechnen (je nach Grip, Streckentemperatur usw.), die sich um das Set-up für die Launch Control, die Wheelie Control und andere Systeme kümmern, auch ein «holeshot device» (Startvorrichtung) gehört heute zum guten Ton.
Ducati kreuzte 2020 sogar mit einer Weiterentwicklung des Holeshot-Device auf, die es den Fahrern ermöglicht, die Heckpartie der GP20 in der Beschleunigungsphase durch eine Ansteuerung des Federbeins abzusenken. «Ride height adjuster», nannte Ducati diese neue Errungenschaft des erfindungsreichen Gigi Dall’Igna, der vor einem Jahr schon mit einem Hinterradspoiler (erzeugt Downforce, dient aber offiziell der Kühlung des Hinterreifens) für Aufruhr gesorgt hat.
Pit Beirer ist überzeugt, dass eine Verringerung der Technikmannschaft kein grundsätzliches Problem darstellen wird.
«Unser Testteam für Dani Pedrosa und Mika Kallio funktioniert ja auch mit wenig Personal, trotzdem kann diese Truppe ein MotoGP-Motorrad befeuern. «Jetzt ist sicherlich ein Zeitpunkt, an dem auch in der MotoGP-Klasse diese extreme Weiterentwicklung nicht stattfinden kann. Wir werden beim Neustart nicht dieselbe Manpower wie in letzter Zeit haben», sagt Pit. «In Kürze werden wir auch nicht mehr über dieselben Budgets verfügen wie vor der Krise. Deshalb hatte ich vor Ostern zwei Telefonkonferenzen mit den Managern der anderen MotoGP-Werksteams. Wir müssen versuchen, die technische Entwicklung etwas einzudämmen. Du brauchst nicht so viele Leute, um ein Motorrad in Gang zu bringen. Bisher hatten wir für jedes Detail vor Ort Mitarbeiter, die jedes Problem lösen konnten und die uns halfen, ständig besser zu werden. Natürlich geht das auch mit weniger Leuten. Das ist vielleicht eine gesunde Erkenntnis für die Zeit danach. Wir werden jetzt herausfinden, mit wie viel Leuten weniger auch alles funktionieren würde.»
Als ehemaliger 250-ccm-Motocross-Vizeweltmeister war es Pit Beirer jahrelang gewohnt, mit weniger Marschgepäck zu den WM-Läufen aufzubrechen.
Aber inzwischen tummeln sich im Paddock immer weniger Techniker, die ein Motorräder von hinten bis vorne verstehen, vom Motor über das Chassis bis zur Suspension, vom Getriebe bis zur Elektronik. Das war in der analogen Vergangenheit ganz anders.
Damals wurden die Motoren noch in der Box zerlegt und Kolben getauscht. Heute werden die MotoGP-Triebwerke in sterilen Räumen geöffnet, der Umgang mit den Seamless-Getrieben (ohne Zugunterbrechung) gilt als eigene geheimnisvolle Wissenschaft.
In Zukunft werden vielleicht wieder mehr Allrounder der alten Schule gebraucht werden, die nicht nur den Spritverbrauch ausrechnen, sondern auch die Suspension abstimmen und die Reifenwärmer montieren können.
«Man wird künftig vielleicht mit weniger Aufwand unterwegs sein müssen. Und vielleicht bleiben daraus auch sehr wertvolle Erkenntnisse für die Zeit nach der Pandemie», überlegt Pit Beirer.
Der endlose Wettbewerb von «höher, schneller, weiter» wird zumindest vorübergehend zum Stillstand kommen. Denn er wird nicht finanzierbar sien. Die Wirtschaft wird einen Einbruch erleiden, der Konsum wird sinken, die Zahl der Arbeitslosen steigen. Bei den Motorradfirmen werden die Rekordabsätze der letzten Jahre in absehbarer Zeit nicht erreicht werden können.
«Es wird sich zeigen, dass die Motorradrennen auch mit weniger Aufwand funktionieren», ist Beirer überzeugt. «Am Ende des Tages kommen die Zuschauer an die Rennstrecke, weil sie einen bestimmten Fahrer auf einer gewissen Motorradmarke fahren sehen wollen. Wir müssen jetzt überlegen, wie wir die Athleten und diese Motorräder so schnell wie möglich wieder auf die Piste raus bringen.»
«Jetzt, wo wir so viel daheim hocken, können wir überlegen, ob diese Besessenheit für jede technische Detailverbesserung Sinn macht. Jedes kleinste Teil am Bike muss dauernd besser, teurer und leichter werden. Es ist unglaublich, mit wie wenig wir uns momentan nach vier Wochen Lockdown zufrieden geben würden – mit wie wenig Rennen und mit wie wenig Aufwand wir plötzlich alle happy wären. Wir wären schon glücklich, wenn wir nur dieses eine Motorrad und nur dieses eine Motorrad draußen hätten», seufzt Pit Beirer. «Du brauchst in erster Linie die Athleten und das Sportgerät an der Sportstätte. Dann haben wir alle Spaß.»