Das Honda-MotoGP-Dilemma: Ein Gigant im freien Fall
Die einzige Erfolgsmeldung von Honda in der MotoGP betraf in den letzten drei Wochen – hoffentlich! – die gelungene Operation von Marc Márquez. Doch für diesen vierten Eingriff am rechten Oberarm waren nicht die Mannschaften von Repsol oder LCR zuständig, sondern die Ärzte der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota/USA.
Nach den ersten Misserfolgen von Honda nach der Siegesserie von Marc Márquez durfte man noch ein bisschen erleichtert sein über die willkommene Abwechslung, als 2020 plötzlich Joan Mir auf Suzuki und 2021 Fabio Quartararo auf der Yamaha ihre Chancen perfekt nutzten. Gleichzeitig heimste Ducati mit immer mehr Toppiloten Siege, Podestplätze und Pole-Positions ein. Und die Neueinsteiger KTM und Aprilia fielen zuerst mit Podestplätzen und dann mit MotoGP-Siegen auf; KTM räumte sechs ab, Aprilia bisher einen.
Das Abendland ist im Vormarsch: Von den zehn MotoGP-Rennen 2022 hat Ducati fünf gewonnen, KTM eines, Aprilia auch eines, Yamaha drei.
Man findet kaum die richtigen Vokabeln für die aktuelle Honda-Misere, selbst Begriffe wie Schlamassel, Debakel oder Tiefpunkt beschreiben ja die Situation nur unzureichend.
Am schlimmsten ist, dass bei Honda zumindest nach außen hin kein Eingeständnis von Versagen zu hören ist. In zwei Jahren ist noch kein Ton von Selbstkritik oder Selbstzweifel zu vernehmen gewesen.
Man habe von 2013 bis 2019 in sieben Jahren sechs Titel mit Márquez gewonnen, das Motorrad könne also nicht so schlecht sein, zumal Marc 2021 nach seiner Rückkehr wieder drei Siege eingefahren hat. «Mit einer Hand», wie Repsol-Honda-Teammanager Alberto Puig beim Deutschland-GP gegenüber SPEEDWEEK.com betonte.
Dass Honda bei der Weiterentwicklung der Honda RC213V seit drei Jahren auf der Stelle tritt, nachdem Márquez 2019 schon 35 Saisonstürze fabriziert und dringend ein besser ausbalanciertes Chassis verlangt hatte, lässt sich nicht bestreiten.
Dass Honda bei der Fahrerwahl (Jorge Lorenzo, Alex Márquez, Taka Nakagami, Pol Espargaró) in den letzten vier Jahren keine Volltreffer gelandet hat, im Gegensatz zu allen Mitbewerbern, greift ein Blinder mit dem Stock.
Inzwischen ist Honda auf ein unterirdisches Niveau gesunken. Es wollen nur noch Fahrer auf die RC213V steigen, die sonst arbeitslos wären – wie Joan Mir. Andere Siegfahrer bleiben lieber bei ihren bewährten Fabrikaten.
Das Repsol-Honda-Team hat sich in der MotoGP von einer Nobeladresse in ein abgewirtschaftetes Elendsviertel verwandelt.
Die Statistik lügt nicht.
- Marc Márquez hat 2022 noch keinen Podestplatz erreicht. Er war WM-Zehnter, als er nach dem Mugello-GP zusammenpackte und sich wieder operieren ließ.
- Pol Espargaró begann in Doha mit Platz 3, seither geht’s bergab. Er hat in zehn Rennen 40 Punkte eingesammelt und liegt in der Tabelle an 15. Position. Bei den letzten drei Rennen ist er punktelos geblieben.
- Taka Nakagami ist in der Fahrer-WM an die 16. Stelle abgesackt. In Barcelona stürzte er schon beim Anbremsen der ersten Kurve, in Sachsen hielt er sich etwas länger auf zwei Rädern.
- Alex Márquez, immerhin Moto3-Weltmeister 2014 und Moto2-Weltmeister 2019, während Gegner wie Quartararo, Aleix Espargaró, Rins, Miller, Martin und Oliveira in den kleinen Klassen nie einen WM-Titel gewannen, hat 2022 erst zwei Top-Ten-Plätze (1x Rang 7, 1x Rang 10) geschafft, sonst kommt er eher auf den Plätzen 13 bis 15 ins Ziel.
- Stefan Bradl war 2021 beim Jerez-GP im FP1 noch an dritter Stelle, er fuhr 2020 in Portimão im Rennen auf Platz 7. In diesem Jahr blieb er bei allen vier Rennen punktelos. In Jerez stürzte er im Rennen gleich zweimal, in Barcelona einmal. In Sachsen verlor der Bayer im Rennen als 16. nicht weniger als 52 Sekunden, also fast zwei Sekunden pro Runde.
Dieses Fazit lässt darauf schließen, dass die RC213V keine Rennmaschine ist, sondern eine Missgeburt, die Persiflage einer Rennmaschine.
Das bestätigt ein Blick in die Statistik. Denn der Sachsenring-GP markierte am Sonntag einen negativen Höhepunkt von Honda in der Königsklasse: Erstmals seit dem Anderstorp-GP am 16. August 1981 kassierte kein einziger Honda-Fahrer Punkte.
Auch am 9. Mai 1982 in Nogaro/F war das der Fall, aber damals streikten die Werksteams von Yamaha, Suzuki und Honda wegen des rutschigen Asphaltbelags.
Bei einem Blick auf die Tabellen der drei WM-Wertungen bekommt jeder Honda-Fan Schüttelfrost.
Fahrer-WM: 12. M. Márquez. 15. Pol Espargaró. 16. Nakagami, 18. Alex Márquez. – Team-WM. 8. Repsol-Honda. 10. LCR-Honda. –Marken-WM: 6. Honda.
Ich erinnere mich: Der oberste Suzuki-Chef entschuldigte sich zu Beginn der MotoGP-Viertakt-Ära 2002 einmal im Herbst schriftlich beim 500-ccm-Weltmeister Kenny Roberts junior für das inferiore 990-ccm-V4-Motorrad.
Und Yamaha-Projektleiter Kouichi Tsuya trat am 11. August 2018 beim Österreich-GP nach dem Freitags-Training vor die Presse und entschuldigte sich für das nicht konkurrenzfähige M1-Motorrad, nachdem Viñales und Rossi mit mehr als einer Sekunde Rückstand auf den Plätzen 11 und 14 gelandet waren.
Ein paar Monate später wurde er durch den neuen Projektleiter Takahiro Sumi ersetzt. Danach ging es wieder aufwärts.
Bei Honda wird die Schuld eher bei den Fahrern gesucht. Aber wer hat sie engagiert?
Honda: Wann rollen Köpfe?
Als Honda beim Sepang-Test 2016 im Februar abgeschlagen im hinteren Feld landete, weil man sich nicht rechtzeitig mit der Adaption und den Nachteilen der neuen Einheits-ECU von Magneti Marelli beschäftigt hatte, sagte ein alter Hase zu mir: «Wenn ein Werk diese Problematik in den Griff kriegen kann, dann Honda.»
Er hat Recht behalten. Marc landete beim ersten Rennen in Doha auf Platz 3, das zweite gewann er bereits.
Aber heute kann Honda nicht einmal innerhalb von zwölf Monaten eine Verkleidung entwickeln, die den Fahrern bei 35 Grad Außentemperatur keine Verbrennungen zufügt. Das schafft jeder Hobby-Bastler in zwei Monaten.
Pol Espargaró musste schon 2021 im Rennen in den Kurven den rechten Fuß immer von der Raste wegstrecken, um die Schmerzen ertragen zu können.
Geändert hat sich seither nichts.
Aus Pols Box war am Sonntag zu hören, an der Schwinge seien eine Stunde nach den Trainings jeweils noch 80 bis 100 Grad gemessen worden.
Im normalen Berufsleben würde man die Verursacher dieser Misere wegen des Verdachts auf vorsätzliche Körperverletzung zur Rechenschaft ziehen.
Eigentlich hätten bei HRC schon beim Katar-Test 2020 Köpfe rollen müssen. Oder nach dem zweiten Jerez-GP 2020, wo niemand den Mumm hatte, Marc Márquez wenige Tage nach der Oberarm-OP an der Teilnahme zu hindern.
Inzwischen sind zehn der 20 Grand Prix absolviert, Honda hat keinen blassen Schimmer, wie das 2022-Bike schlagkräftiger gemacht werden kann.
Aus den Ersatzteilkisten von 2019 oder 2020 wird man nichts mehr herauskramen können, was helfen könnte, 2023 aus der Abwärtsspirale zu finden.
Etliche erfolgreiche HRC-Techniker sind nach 2017 und 2018 entlassen worden und dann zum Beispiel zu KTM abgewandert.
Inzwischen gleicht die MotoGP-Expedition von Honda einem Himmelfahrtskommando. Den selbstherrlichen japanischen Managern steht die Ratlosigkeit von Kuwata über Yokoyama bis zu Kokubo ins Gesicht geschrieben.
Pol Espargaró (2020 WM-Fünfter bei KTM mit fünf Top-3-Ergebnissen, bei Honda zwei in eineinhalb Jahren) fordert seit eineinhalb Jahren bei Honda mehr Grip am Hinterrad. Dieser Wunsch wurde offenbar beim neuen Werksmotorrad erfüllt, er startete mit Platz 3 in Doha in die Saison. Dann verlangte Marc Márquez mehr Feeling für den Vorderreifen, das Dilemma nahm seinen Lauf.
Jedenfalls hat bei Repsol-Honda seit 2017 (Dani Pedrosa) außer Marc Márquez kein Fahrer einen Sieg errungen. Daran wird sich auch im fünften Jahr nichts ändern.
Wenn HRC-Präsident Yoshishige Nomura nicht bald ein Machtwort spricht und Köpfe rollen lässt, wird Marc Márquez bis zum Ende seines Vertrags 2024 nie mehr um den Titel mitfighten.
Was die einstigen Serien-Siege mit Doohan, Rossi und Márquez betrifft: Im Motorsport gilt die einfache Regel: Nichts ist so alt und bedeutungslos wie das Ergebnis von gestern.