Formel 1: Max Verstappen – alles für die Katz

Ayrton Senna, Roland Ratzenberger: 25 Jahre danach

Von Mathias Brunner
​Das Wochenende von Imola 1994 – keiner, der in Italien vor Ort war, keiner, der vor dem Fernsehgerät sass, wird die Vorkommnisse je vergessen. Die Erinnerung bleibt so stark, als wäre alles erst gestern passiert.

Unfassbar, wie die Zeit verfliegt. Ist das schwarze Wochenende von Imola wirklich schon 25 Jahre her? Wenn ich die Ereignisse in Erinnerung rufe, dann kommt es mir vor, als hätte der Tod erst vor wenigen Wochen das Fahrerlager heimgesucht. Ich berichtete damals an der Seite meines Vorbilds Helmut Zwickl von den Formel-1-Rennen. Helmut hatte schon in den 60er Jahren über den Grand-Prix-Sport geschrieben, packend wie kein anderer, zu einer Zeit, als fast jedes Jahr mindestens ein Spitzenpilot sein Leben liess. Mir ist bis heute schleierhaft, wie er damit umgehen konnte.

Die Formel 1 war 1994 so egozentrisch wie heute, aber in Sachen Sicherheit in fahrlässige Selbstgefälligkeit verfallen: Was sollte schon passieren? Hatte es nicht seit 1986 und dem Testunfall von Elio de Angelis in Le Castellet keinen Formel-1-Toten mehr gegeben? Lag der letzte tödliche Unfall an einem GP-Wochenende nicht gar zwölf Jahre zurück? (Riccardo Paletti 1982 in Montreal, mein erster Grand Prix übrigens, aber das ist wieder eine andere Geschichte.)

Im Winter 1993/1994 waren die wichtigsten Fahrhilfen verboten worden, die Autos wurden von freiem Auge nervös wie Rennpferde kurz vor dem Start. In Brasilien war noch alles gut gegangen, in der Einöde von Aida in Japan auch. Aber das war nur die Ruhe vor dem Sturm.

Entsetzen über den Unfall von Ratzenberger

Der fatale Unfall von Roland Ratzenberger am Samstag, 30. April 1994, erzeugte grenzenloses Entsetzen. Wie der Österreicher nach dem schlimmen Unfall im Abschlusstraining im Wrack lag, die grausige Färbung des Helmes, da gab es kaum Hoffnung, das war uns sofort klar.

Als die Ärzte am zerschlagenen Chassis von Ratzenberger angekommen waren, schlug das Herz Ratzenbergers noch einige Male, aber Dr. Franco Seradei sagte später: «Im Grunde war der Fahrer klinisch tot.»

Helmut und ich schalteten den Autopiloten ein: Also Emotionen unterdrücken, Informationen sammeln, schreiben, professionell bleiben. Es reichte hin und wieder ein Blick zu meinem Wiener Kollegen, um zu wissen, was er über das ganze Geschehen dachte. Das Gleiche wie ich: Passiert das alles wirklich? Oder erwachen wir bald aus diesem fürchterlichen Traum?

Ich kann nicht behaupten, dass ich Roland Ratzenberger gut kannte. Wir hatten uns kurz in Brasilien unterhalten, etwas länger in Japan. Was ich jedoch sagen kann: Einer jener Mensch, die einem sofort sympathisch sind. Offen, humorvoll, zugänglich, aufmerksam. Abgesehen von den Deutschsprachigen sowie von Journalisten, die Roland aus der Zeit in England oder Japan kannten, blieb der Gästebereich bei Simtek meist leer. Ratzenberger freute sich spürbar, wenn jemand vorbeischaute.

Da war vor der Ära der heutigen Presseverhinderer. Wer mit einem Fahrer reden wollte, ging zu ihm hin und fragte, basta. Vielleicht mit Ausnahme der Stars der Branche. Roland war vom Status her kein Star, jede Form von Allüren waren ihm komplett fremd. Er war, um es auf den Punkt zu bringen, einfach ein klasse Typ.

Düstere Stimmung im Hotel

Irgendwann waren alle Berichte abgesetzt, die Menschen verliessen tröpfchenweise die Strecke in Richtung ihrer Hotels, die übliche Leichtigkeit des Seins in der frühlingshaften Emilia-Romagna war dahin.

Die «Albergo Alma» in Riolo Terme war jahrelang unsere Oase fürs Rennen in Imola. Jeden Abend nach einem langen Arbeitstag trudelten Journalisten- und Fotografenkollegen nach und nach in dieses Hotel ein, versuchten, mit einer schnellen Dusche den Dreck des Tages und den massiven Pollenflug abzuwaschen (was meist gelang), ohne das ganze Bad und das Zimmer obendrein unter Wasser zu setzen (was meist misslang), dann freute man sich aufs gemeinsame Essen.

Allgemeines Türenknallen (die Wände bestanden der Akustik zufolge aus Karton) war jeweils das Signal zur Tafel. Die Tische waren lang, die Abende auch, im Zeitalter ohne Internet, Facebook und Twitter gab es so etwas wie Geselligkeit ohne den Druck, ständig etwas posten zu müssen.

Hin und wieder wurden die Gespräche tiefgründig, meist wurde eher geblödelt, oft leidenschaftlich über Racing diskutiert, immer wurde viel gelacht. Als wir erstmals ins Alma zur Familie Sangiorgi kamen, rannte ein Wirbelwind von Knirps unter den Tischen durch. Jahre später stand der gleiche Sohn des Besitzer-Ehepaars, inzwischen baumlang, in der Küche und hat die leckersten Speisen auf die Teller gezaubert. Es geht nichts über einen Familienbetrieb in Italien.

Aber an diesem 30. April 1994 war alles anders.

Gabeln klapperten zurückhaltend, die meisten von uns stocherten lustlos im Essen herum, Appetit hatte kaum einer, das Geschehene in Alkohol zu ertränken, machte nichts besser. Aber reden tat gut, wie sonst lässt sich dieses eisige Entsetzen verarbeiten?

«Das ist fürchterlich», sagte einer.

«Schlimmer geht es nicht, zuerst der Unfall von Barrichello am Freitag und nun Ratzenberger», sagte einer anderer.

Und ein dritter meinte: «Schlimmer wäre eigentlich nur, wenn morgen Senna stirbt.»

Der Satz verfolgt mich bis heute.

Furchtbare Bilder

Sonntagmorgen, 1. Mai, Renntag: Ein italienischer Kollege sprach mich an, ein Fotograf wolle mich sehen. Er stellte uns vor, dann ging er auffällig schnell, so als ob er mit der folgenden Szene nichts zu tun haben wollte.

Ich weiss den Namen des Fotografen nicht mehr. Aber die Farbabzüge, die er mir zeigte, bester Laune, wie ein Fussballknirps auf dem Pausenhof, der seine Panini-Bildchen vorführt, ich werde sie nie mehr aus meinem Kopf bekommen. Ein Bild grauenvoller als das nächste, Nahaufnahmen, sehr viel Rot, den Rest überlasse ich Ihrer Phantasie. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, so nahe an den Verunfallten heranzukommen, wo der noch im Wagen lag. Und warum ihn niemand wegschickte, als Roland Ratzenberger aus dem Auto gehoben wurde.

Ich schob die Bilder von mir weg: «Es tut mir leid, das ist nichts für uns. Versuchen Sie ihr Glück woanders.» Mir war speiübel.

Kurz vor dem Start zum San-Marino-GP. Helmut Zwickl und ich schauten uns wie immer an, gaben uns die Hand, es war ein kleines Ritual zwischen uns, fast als ob wir selber bald Rad an Rad kämpfen würden, und wünschten uns: «Gutes Rennen.»

Leider blieb der Wunsch unerfüllt: Ayrton Senna kam im San-Marino-GP von der Bahn ab, in Führung liegend, in der Tamburello zog er sich tödliche Verletzungen zu.

Gerhard Berger hat das vielleicht am treffendsten gesagt: «Es war, als sei die Sonne vom Himmel gefallen.»

So wäre Ayrton Senna 2019

Ayrton Senna wäre am 21. März 2019 59 Jahre alt geworden. Ich frage mich hin und wieder: Was wäre wohl aus ihm geworden, hätte er das verfluchte Imola-Wochenende von 1994 überlebt?

20 Jahre nach dem Tod von Ayrton Senna geisterte eine Fotomontage durchs Internet. Das Bild zeigte, wie sich Ayrton Senna aus dem Williams-Wrack in Imola stemmt. Leider haben wir dieses Bild nie erleben dürfen. Es ist wie die Momentaufnahme aus einem Parallel-Universum. In den vergangenen Jahren haben meine Kollegen und ich an unzähligen Grand-Prix-Strecken immer wieder darüber diskutiert: Wie hätte sich alles entwickelt, wenn Senna Imola 1994 überlebt hätte?

In der Nacht vor dem Unglücksrennen war der grosse Brasilianer in tiefer Bestürzung. Die Unfälle von Rubens Barrichello und Roland Ratzenberger hatten ihn aufgewühlt. Seinem engen Freund, dem Rennarzt Professor Sid Watkins, vertraute er sich an. Watkins riet ihm: «Dann fahr doch einfach dieses Rennen nicht. Oder warum hörst du nicht gleich ganz auf? Ayrton, was musst du noch beweisen? Lass das alles zurück und wir gehen fischen.»

Senna antwortete: «Es gibt gewisse Dinge, über die ich keine Kontrolle habe. Ich kann nicht aufhören. Ich muss weitermachen.»

Der Rest ist bekannt.

Ich bin bis heute davon überzeugt: Ayrton hätte aus dem zunächst so störrischen Williams FW16B ein manierliches Auto gemacht. Und er wäre damit 1994 Formel-1-Weltmeister geworden, zum vierten Mal nach 1988, 1990 und 1991. Bei allem Respekt für Damon Hill: Wenn der Brite die WM-Entscheidung gegen Michael Schumacher im Benetton bis zum Finale von Adelaide offenhalten konnte, dann hätte Senna das längst zuvor klargemacht. Niemand wird mir widersprechen, wenn ich sage: Senna fuhr in einer anderen Kategorie als Hill.

Williams baute in der Folge 1996 (Weltmeister Hill) und 1997 (Weltmeister Villeneuve) das beste Auto im Feld. Gehen wir davon aus, dass Senna bei Williams geblieben wäre, so hätte er 1997, als 37-Jähriger, leicht bei mindestens sechs WM-Titeln stehen können, vielleicht sogar bei sieben.

Dann hätte er aufgehört, oder er wäre er zu Ferrari gegangen. Niemand kann sagen, was er dort noch erreicht hätte.

Aber ich weiss: Ayrton Senna hätte während und nach Abschluss seiner Rennkarriere die Vision eines besseren Brasilien mit allem Nachdruck umgesetzt, mit der gleichen Konsequenz wie hinterm Rennlenkrad.

Ich bin sicher, er hätte eine Familie gegründet. Er wäre ein fabelhafter Vater geworden, denn Ayrton liebte Kinder.

Und ich bin davon überzeugt, er würde viele der heutigen Entscheidungen in der Formel 1 so unverblümt kommentieren wie er es damals tat.

Wieviele Menschen Ayrton Senna berührt hat, wird von der Tatsache unterstrichen, wie lebendig der Mythos Senna heute noch ist, selbst 25 Jahre nach seinem Tod. Für viele ist er der grösste Formel-1-Rennfahrer. Aber seine Rennerfolge sind nicht sein kraftvollstes Vermächtnis.

Die Arbeit für das Wohl der Bevölkerung und zahllose Verbesserungen der Sicherheit, nicht nur im Rennwagenbau, das ist sein wahres Erbe. Der NCAP-Crashtest, 1996 eingeführt, war eine direkte Folge des San-Marino-Wochenendes.

Wir haben am schwarzen Wochenende von Imola 1994 Roland Ratzenberger und Ayrton Senna verloren. Aber ihr Tod hat geholfen, tausende von Menschenleben zu retten.

Bei aller Trauer über den Verlust der beiden Racer – das ist ein tröstlicher Gedanke.

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