Michael Schumacher: Der Grösste ist unvergessen
Michael Schumacher
Vor dem dramatischen WM-Finale 2021 zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton sagte Sebastian Vettel: «Egal, was an diesem Wochenende passieren wird – Michael Schumacher bleibt mein Held. Und genau aus diesem Grund will ich nicht, dass Lewis gewinnt. Aber selbst wenn Hamilton seinen achten Titel erobern sollte, bleibt Michael für mich der Grösste. Da kann Lewis noch einen, zwei oder fünf zusätzliche Titel holen, das spielt für mich keine Rolle. Ich verstehe mich gut mit Lewis, aber mir wäre halt lieber, wenn der Rekord von Michael nicht gebrochen würde.»
Das Interesse an Michael Schumacher ist nie erloschen, seit der siebenfache Champion nach dem verhängnisvollen Skiunfall am 29. Dezember 2013 um seine Gesundheit kämpft. Das hat vier Gründe.
Das liegt zunächst einmal an den treuen Schumacher-Fans. Darüber hinaus gab Michaels Sohn Mick 2021 sein Debüt als GP-Stammfahrer. Seit September ist auf Netflix der bewegende Film SCHUMACHER zu sehen, der schnell zur meistgeklickten Dokumentation des Streaming-Portals wurde. Und schliesslich der WM-Kampf Verstappen gegen Hamilton, mit der Möglichkeit für den Briten, dank eines achten Titels Michael Schumacher zu übertrumpfen.
Ich stelle mir gerne vor, wie Michael Schumacher 2021 die Rennen seines Sohnes an der Box mitverfolgt hätte, ohne den verdammten Skiunfall.
Mehr denn je als in den vergangenen Jahren galt für 2021: Wann immer ich bei meiner Arbeit als Formel-1-Berichterstatter mit jemandem ins Gespräch kam, einem Passagier im Flugzeug vielleicht, einer Rezeptionistin im Hotel, einem Kellner im Restaurant, einem Taxifahrer, und die Menschen erfuhren, dass ich in der Formel 1 tätig bin, so lautet die folgende Frage unweigerlich: «Sagen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wie es Michael Schumacher geht?»
Ich muss dann jeweils sagen: «Nein, ich kann es nicht, tut mir leid.» Nur die Familie und der engste Freundeskreis können das. Sein langjähriger Wegbegleiter Ross Brawn sagt: «Die Familie Schumacher hat sich dazu entschlossen, die Rekonvaleszenz von Michael privat zu halten, und das ist zu respektieren.»
Sternstunde in Spanien
Ich habe leider nie erlebt, wie die Silberpfeil-Giganten Rudi Caracciola und Bernd Rosemeyer um Siege kämpften, wie Juan Manuel Fangio mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit von Titel zu Titel strebte, wie Jim Clark seine Gegner mit unwiderstehlichen Darbietungen entmutigte. Aber ich hatte das Privileg, die Ausnahmerennfahrer Ayrton Senna und Michael Schumacher während ihrer kompletten GP-Karrieren zu sehen.
Einige von Schumis Siegesfahrten waren wahre Sternstunden, wie in Katalonien 1996 etwa. Schumacher fuhr förmlich Kreise um die Gegner, in zahlreichen Kurven wählte der Deutsche ganz andere Linien, das hatte er aus dem Kartsport in die Formel 1 mitgebracht. Wo andere Fahrer nur herumrutschten, fand Schumacher Haftung.
Am Ende kam Schumi 45 Sekunden vor Jean Alesi ins Ziel, eine Weltreise, nur noch Jacques Villeneuve schaffte es, in der gleichen Runde zu bleiben, der viertplatzierte Heinz-Harald Frentzen war überrundet, Pedro Diniz als Sechster hatte schon zwei Runden Rückstand, alle anderen kreiselten von der Bahn oder schieden durch Defekte oder Kollisionen aus.
Regenmeister Rudi Caracciola hatte seinen Nachfolger gefunden. Es war der erste Sieg von Michael Schumacher für Ferrari. 71 weitere in Rot sollten bis Shanghai 2006 hinzukommen.
Im Anschluss an den Spanien-GP damals warteten wir alle im Konferenzraum auf Michael Schumacher, aber es kam niemand, nach knapp einer Viertelstunde knallte eine Tür auf und im Rahmen stand – der König von Spanien, Juan Carlos I.
Mir ist bis heute nicht klar, wer die grösseren Augen gemacht hat, das Staatsoberhaupt oder die Journalistenschar. Der König trug einen komplett durchnässten Regenmantel, um ihn herum bildete sich langsam eine kleine Pfütze, dann sagte er mit einer lässigen Handbewegung: «Ich habe nichts zu erklären!»
Wir waren alle komplett baff, dann brach Gelächter aus, der König lachte mit und stürmte dann diagonal durch den Raum und verschwand durch eine andere Tür.
Es dauerte ungefähr eine halbe Minute, da knallte obige Tür erneut in den Angeln, dieses Mal stürmten vier Bodyguards in den Raum, in milder Panik – sie hatten ihren König verloren. «Da lang!» zeigten wir den Königslosen die Richtung, sie stiefelten von dannen.
Und erst dann kamen die ersten Drei, mit dem anderen König von Spanien, Michael Schumacher. Schumi wunderte sich milde darüber, wieso wir alle so guter Laune waren.
Zwei verschiedene Schumacher
Der überaus sehenswerte Netflix-Film zeigt zwei Schumacher – den Rennfahrer und die öffentliche Figur, und den Familienvater und Privatmann. Der 91fache GP-Sieger liess sich zunächst in Vufflens-le-Château nieder, ab 2008 in Gland. Aus Deutschland war der Rennfahrer einst nach Monaco gezogen, weil er dort keine Ruhe mehr fand.
«Die Leute spazierten da einfach so in unseren Garten», sagte er mir in einer stillen Minute. Aber auch Monte Carlo war für ihn nicht das Richtige. Zudem bot dem ausgeprägten Naturmenschen Schumacher Monaco zu wenig Reize. «Zu klein, zu wenig grün», fand Schumi.
Angesprochen auf das friedliche Leben in der Schweiz erzählte mir Michael Schumacher einmal diese Anekdote: «Wenn ich in der Schweiz Brötchen holen gehe, dann gucken die Menschen höchstens einmal kurz herüber, ab und an fragt jemand nach einem Autogramm, das ist alles. Später werden diese Menschen dann zuhause vielleicht sagen: ‚Rate mal, wen ich heute gesehen habt?’ Aber unsere Familie kann unbehelligt leben.»
«Einmal ging ich mit dem Hund spazieren und traf eine Frau, die ebenfalls mit dem Hund unterwegs war. Wir sind ins Gespräch gekommen, haben über dies oder das gesprochen. Und auf einmal sagte sie zu mir: ‚Und was manchen Sie so beruflich?’ Sie hatte keine Ahnung, wer ich bin. Das fand ich grossartig.»
Der Wunsch nach Ruhe war auch der Grund für zahlreiche Reisen in die USA, wo die meisten Menschen nicht wussten, wer Michael Schumacher ist.
Mit Kumpels entstand bei einer dieser Reisen der spontane Wunsch, einen NASCAR-Lehrfahrkurs zu machen. Also stellten sich Schumi und seine Kumpels in eine lange Schlange. «Nach einer Weile wurde uns das Warten zu blöd, also sind wir wieder gegangen», verriet mir der Ausnahmekönner. Auf meine Frage, wieso er nicht gesagt habe, wer er sei, meinte Schumi: «Ich wollte mich nicht vordrängeln, das wäre nicht in Ordnung gewesen.» Also haben wir Michael Schumacher nie in einem NASCAR-Auto erlebt.
Unglaublich, aber wahr – in der Warteschlange hatte niemand den Deutschen erkannt. Das würde heute nicht mehr passieren: Die Netflix-Serie «Drive to Survive» hat das Interesse in den USA an der Formel 1 vervielfacht.
Ich kenne nur zwei Piloten, von welchen so oft die Rede ist, obschon sie nicht in unserer Mitte weilen, und das gilt für Fans und Fachleute zugleich – Michael Schumacher und Ayrton Senna.
Vielleicht ist dies das wertvollste Zeichen des Respekts, das wir solchen Persönlichkeiten entgegenbringen können: dass wir sie nicht vergessen.