Rossi gegen Lorenzo: Es ist nur ein Motorradrennen
Das MotoGP-WM-Finale in Valencia wird heute in einem Hexenkessel stattfinden. Das Stadion des Ricardo Tormo-Circuits in der Nähe von Cheste, kaum 15 Minuten vom Flughafen und 30 Minuten vom Stadtzentrum Valencia entfernt, wird gerammelt voll sein.
Rund 20.000 Zuschauer wollen ohne Tickets an die Strecke kommen. Die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft.
Es gab zwar in den letzten Tagen Beschwichtigungen von höchster Seite. FIM-Präsident Vito Ippolito redete auf die Rennfahrern ein, sie sollen schön brav sein, man möge alle persönlichen Animositäten ad acta legen. Auch Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta nahm am Donnerstag die Stars Márquez, Rossi und Lorenzo unter vier Augen zur Seite und ermahnte sie zu sportlicher und fairer Fahrweise.
Aber es steht viel auf dem Spiel.
In Malaysia hatten Lorenzo, Márquez und Pedrosa in seltsamer Übereinstimmung erklärt, sie hätten Respekt vor Rossi verloren, weil der Italiener in der siebten Runde in Turn 14 einen kleinen Umweg gefahren und Márquez aus dem Weg bugsiert hatte.
Diesen Zwischenfall kann man beurteilen, wie man will.
Rennfahrer wie Neil Hodgson forderten eine Disqualifikation von Rossi, aber er meinte zu diesem Zeitpunkt, Rossi habe Márquez mit einem Fusstritt vom Motorrad geschubst. Das entspricht aber nicht den Tatsachen.
Fakt ist, dass Rossi von Márquez provoziert wurde, dass der Spanier keine Sekunde Rücksicht auf den Titelanwärter Rossi nahm. Es ging nur um persönliche Rache.
Seit es überall Onboard-Kameras gibt, seit bei jedem Training und Rennen ein Helikopter über der Piste schwebt und filmt, seither bleibt kein Vergehen mehr unentdeckt.
Die Frage ist, wie weit man erbarmungslose Zweikämpfe, Rad-an-Rad-Duelle und grimmige Manöver ahnden will.
Loris Capirossi blieb 1998 Weltmeister, obwohl er seinen Widersacher Harada beim 250-ccm-WM-Finale vom Motorrad schubste. Kenny Roberts gegen Freddie Spencer 1983 in Anderstorp, das war jenseits von Gut und Böse, es wurde trotzdem als «racing incident» bezeichnet, als normaler Rennzwischenfall.
Solche Beispiele gibt es haufenweise, zum Beispiel zwischen Rossi und Gibernau 2005 in Jerez, 2013 an gleicher Stelle zwischen Márquez und Lorenzo, selbst der Abschuss von Pedrosa durch Márquez in Aragón hatte keine drei Strafpunkte zur Folge.
Valencia: Noch nie stand so viel auf dem Spiel
Wie auch immer: Valentino Rossi hat 2003 den Australien-GP auf Phillip Island trotz eines 10-Sekunden-Penaltys gewonnen. Er hatte damals Marco Melandri bei gelber Flagge überholt und war deshalb bestraft worden. Marc Márquez ist beim Moto2-Rennen 2011 in Australien vom letzten Startplatz auf Platz 3 gebraust, 2012 hat er in Valencia (im Regen) vom letzten Startplatz weg das Moto2-Rennen sogar gewonnen.
Aber Moto2 ist nicht MotoGP.
Rossi muss hier in Valencia heute ab 14 Uhr so viel riskieren wie vielleicht noch nie in seiner Karriere.
Gleichzeitig ist bei einem Sturz wohl alles vorbei, solange Jorge Lorenzo sein Gefährt auf zwei Rädern hält.
Es habe in der Königsklasse schon viele spannende Titelfights stattgefunden, aber noch nie stand so viel auf dem Spiel wie heute in Valencia. Noch befand sich der MotoGP-Sport so im Brennpunkt wie jetzt.
Rossi könnte mit dem achten Titelgewinn in der Königsklasse mit Agostini gleichziehen. Er könnte den ersten WM-Titel seit 2009 gewinnen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, den jungen Löwen eine Lektion zu erteilen.
Für Lorenzo geht es um den dritten Titel nach 2010 und 2012.
Der Titelkampf ist zum Fight des Jahrhunderts aufgebauscht worden.
Manche hoffnungslose Rossi-Anhänger haben versucht, Lorenzo durch unsittliche Gesten in Valencia aus der Reserve zu locken.
Manche finstere Gestalten, die sich als Rossi-Fans tarnen, haben sogar einen Marsch auf die Rennstrecke abgekündigt, falls sich in den letzten Rennrunden ein Titelgewinn von Lorenzo anbahnt, sie möchten dann einen Rennabbbruch erzwingen. So eine Überflutung der Rennstrecke wäre aber sinnlos, weil dann einfach die Runde vor dem Abbruch gewertet würde...
Hoffen wir auf ein spannendes, aber faires Finale.
In den letzten Wochen ist die MotoGP-WM zu einer kriegerischen Auseinandersetzung ausgeartet. HRC und Repsol haben mit sinnlosen Press Releases unnötig Öl ins Feuer gegossen.
Es ist höchste Zeit, dass sich die Gemüter beruhigen. Die wahren Dramen spielen sich woanders in der Welt ab, in Syrien, in Afghanistan, in der Ostukraine.
Was heute um 14 Uhr stattfindet, ist nur ein Motorradrennen.
Auch wenn dieses Finale hohe Wellen schlägt. Beim Fussball-Lokalderby AS Roma gegen Lazio werden heute in Rom die Zuschauer bereits ab 13 Uhr ins Stadion eingelassen; sie können auf den Grossleinwänden den Valencia-GP live verfolgen.
Wer nach 30 Runden die meisten WM-Punkte gesammelt hat, darf sich MotoGP-Weltmeister nennen. Schön.
Aber auch für den WM-Zweiten wird die Welt nicht untergehen. Ab 20. März 2016 in Katar bekommen alle Beteiligten eine neue Chance.