Mexiko vor GP: Ein Land lässt sich nicht unterkriegen
Ende September stand Mexiko unter Schock. Erst nach und nach wurde klar, welch unfassbares Leid das Erdbeben vom 19. September über die Menschen gebracht hat. Die Regierung bestätigte zuletzt mehr als 350 Todesopfer, Hunderte wurden schwer verletzt. In Mexiko sind viele Bürger überzeugt, dass die tatsächliche Zahl viel höher liegt. Allein in Mexiko-Stadt wurden mehr als 500 Gebäude teils schwer beschädigt, mehr als vierzig stürzten beim Beben oder unmittelbar danach ein, weitere vierzig galten in den Tagen nach dem schwersten Beben seit 1985 als akut einsturzgefährdet.
Gut einen Monat nach dem Beben kommt die Formel 1 in diese Stadt. Wir erkennen die Narben des Bebens, wenn wir vom Flughafen Richtung Hotel fahren. Aber in solchen Zeiten rücken die Menschen noch näher zusammen. Die Mexikaner trauern um ihre Toten, aber ihr Wille ist ungebrochen. Ich habe tiefsten Respekt vor diesen Menschen.
Angesichts des Leids kursierte in den sozialen Netzwerken unter Rennfans bald die Frage, ob es angemessen sei, nur wenige Wochen nach einer solchen Tragödie einen Grossen Preis von Mexiko auszutragen. Hat ein Autorennen nach solch einem Schicksalsschlag wirklich eine Bedeutung?
Rodrigo Sanchez, Marketing-Direktor des «Autódromo Hermanos Rodríguez», sieht das anders. Der Grand Prix soll zum Symbol der Standhaftigkeit werden, zum Sammelplatz der Menschen und zu einem positiven Zeichen für die ganze Nation.
Willkommen in der U-Bahn
Die Menschen kehren nach dem Schock vom September zur Normalität zurück. Und das bedeutet für viele von ihnen: Tägliche Fahrt mit der U-Bahn zur Arbeit.
Vom Beben am meisten betroffen – Linie 12, auf deren Streckenführung eine Brücke eingestürzt war. Die anderen Verbindungen waren schon bald wieder normal zu nutzen. Zwei Tage nach dem Beben waren 95 Prozent aller Stationen normal im Einsatz!
Der Strassenverkehr von Mexiko-Stadt ist ungefähr so hoffnungslos wie jener in São Paulo oder Shanghai. Wir reden hier von einem nicht eben wollenden Infarkt, der für einen Durchschnitts-Europäer auch im dritten Jahr des neuen Mexiko-GP nur schwer im vollen Ausmass zu erfassen ist.
Also weichen jeden Tag fast 5 Millionen Mexikaner auf die U-Bahn aus, die «Sistema de Transporte Colectivo Metro» heisst, STC Metro, aber alle sagen nur Metro. Das U-Bahn-Netz von Mexiko-Stadt wird aus 215 Stationen gebildet, davon bieten 30 eine Umsteigemöglichkeit zwischen mindestens zwei Metrolinien. 124 der Bahnhöfe sind unterirdisch, 57 sind oberirdisch und 34 befinden sich in Viaduktlage mit leistungsfähigen Fussgängerbrücken. So weit zum Grundsätzlichen.
Das Metronetz weist eine Länge von rund 250 Kilometern auf und ist ein Gottesgeschenk für die Mexikaner, vor allem für jene, die nicht lesen oder schreiben können.
Denn die Stationen weisen nicht nur Namen auf, sondern auch Symbole – ein Vogel, eine Traube, ein Maiskolben, eine Kanone und so fort. Eingeführt wurden diese Piktogramme 1969 basierend auf einem System des Grafikers Lance Wyman aus New Jersey, weil der Anteil von Menschen in Mexiko erschreckend hoch bleibt, die nicht lesen können. Und so sagen sich viele Analphabeten einfach: Ich fahre vom Grashüpfer bis zur Ente, dann nehme ich den nächsten Zug Richtung Adler und steige beim Brunnen aus.
Einfacher geht’s nicht.
Der tägliche Weg des Berichterstatters Ihres Vertrauens hier in Mexiko-Stadt hat sich nicht geändert in den letzten Jahren: Vom Hotel 850 Meter Fussmarsch die Donato Guerra hoch in die Calle Articulo 123, dann links in die Calle Balderas und Abtauchen ins Dunkel der Metrostation Juárez (Zeichen: ein Nobelmann). Mit der grünen Linie Richtung Universität bis Centro Médico (Äskulapstab), dort Linienwechsel auf die braune Neun und von dort Richtung Pantitlán, bei der Ciudad Deportiva aussteigen, und zehn Gehminuten später stehen wir im Formel-1-Fahrerlager. Leicht atemlos, weil wir die dünne Luft nicht gewöhnt sind.
Das Wort überfüllt erhält im Zusammenhang mit der Metro von Mexiko-Stadt eine ganz neue Dimension. Gemessen an der Lebewesendichte im Zug haben Sardinen in ihrer Büchse eine Art Ballsaal zur Verfügung. Proppevoll bedeutet – man ist Menschen nahe, denen man aus freien Stücken eigentlich nicht nahe sein will.
Vor allem dann nicht, weil an einigen die Erfindung des Deodorants spurlos, aber leider nicht geruchlos vorbeigegangen ist.
Ich weiss noch: 2015 stand ich fassungslos am Bahngleis, als ich meinen Zug einfahren sah. Nicht einmal in Shanghai habe ich so viele Menschen in der Metro gesehen, und das will etwas heissen.
Die Tür ging auf, 4569 Sardinen schwammen heraus, der Zug sah aber noch immer gleich voll aus, was zweifellos eine optische Täuschung sein musste, denn 4568 Sardinen pressten sich neu hinein.
Raten Sie mal, welche Sardine noch immer wie vom Donner gerührt am Bahnsteig stand. Genau.
Beim darauffolgenden Zug machte ich es dann wie die Mexikaner: Zug kommt, Tür geht auf, dann einfach voll dagegenhalten und irgendwie reinpressen. Ellbogen in den Rippen, fremde Füsse auf den eigenen und ein paar böse Blicke sind da ganz normal.
Da ich mit meinen rotblonden Haaren und 190 Zentimtern Körperlänge nicht auf Anhieb als typischer Mexikaner eingestuft werde, erhielt ich beim Drängeln einen Ausländerbonus.
Mit zunehmender Fahrzeit Richtung Rennstrecke leert sich die Metro jeweils, und wir haben mehr Zeit, die atemraubenden Künste der fliegenden Händler zu bestaunen, mit ihren Plastiksäcken voller Ware und dem unvergleichlichen Anpreisungs-Singsang: Lose, Kugelschreiber, Süsszeug, leuchtende Plastikgeister, denn bald ist wieder Tag der Toten. «Eiiiiiiiner für zeeeeeeeehn Peso! Zweeeeeeeei für fünfzeeeeeeeeehn Peso! Greifen Sie zuuuuuuuuuu!»
Das Alter vieler Verkäuferinnen ist nicht leicht einzuschätzen. Ich aber ihren Runzeln zufolge waren einige davon zweifelsfrei am 16. September 1810 dabei, als der Priester Miguel Hidalgo zum bewaffneten Widerstand gegen die spanische Kolonialherrschaft aufrief, was letztlich zur Unabhängigkeit von Mexiko führte.
Die Faustregel bedeutet: Kaum einer kauft was. Die meisten Mexikaner lernen lieber den kleinen Schirm ihres Mobiltelefons auswendig, um den Verkaufsattacken zu entgehen.
Und ja keinen Blickkontakt! Sonst steht ein Händler sofort vor uns, weil er glaubt, wir hätten Interesse. Dann gibt es kein Entrinnen. Als Metro-Greenhorn lautete im ersten Jahr die Durchschnittsbilanz einer solchen Fahrt für mich: Zwei Kugelschreiber und drei Pack Kaugummi. Ich empfind einfach Mitleid für die Verkäufer und ihr hartes Leben. Und ein Kuli ist immer zu brauchen.
Irgendwann wird dann aus der U-Bahn eine Ü-Bahn, denn aus dem Dunkel der Untergrundtunnels fährt die Bahn (übrigens auf Gummirädern) auf einmal ins Freie. Ein kurzer Fussmarsch, und ich stehe auf dem Renngelände des Autódromo (Betonung auf dem ersten O) Hermanos Rodríguez (Betonung auf dem I).
Im ersten Jahr waren die Medienschaffenden baff: Der Pressesaal im ersten Stock erwies sich als fensterloser Bunker, düster, unfreundlich, von der Air-Condition in ein Gefrierfach verwandelt, Bilder und Zeiten zittrig auf die Wände gespielt und kaum zu lesen. Auch mit Brille nicht.
Ich machte damals neugierig eine Tür auf: Sie führte ins Freie, gleissendes Sonnenlicht überflutete alles, allerdings führte der Weg auch fünf Meter in die Tiefe. Ohne Netz und doppelten Boden, von einer Treppe oder Geländer ganz zu schweigen. Die Mexikaner waren dann so nett, die Tür diskret zu verriegeln, nur für den Fall, dass jemand vielleicht forsch ins Freie tritt. Und ins Leere.
Alles in allem hat sich an meinem stärksten Eindruck von Mexiko seit 2015 nichts geändert: Die meisten Menschen in dieser Stadt haben wenig bis nichts. Aber sie tragen ein Lächeln auf den Lippen.
Unsereins nölt ja schon herum, wenn das Wetter mal nicht nach unserem Geschmack ist, die WiFi-Verbindung stottert oder uns sonst ein Alltagsdetail ärgert.
Ich finde: Wir können von den Mexikanern wirklich sehr viel lernen.