Australien-GP Melbourne: Die stärksten Erinnerungen
Ich berichte seit 1982 von Formel-1-Rennen, und ab und an laufe ich an einem Grand-Prix-Schauplatz einem Fan über den Weg, der mich tatsächlich erkennt. Drei Fragen tauchen bei Gesprächen mit den Lesern in der Folge unweigerlich auf. «Wissen Sie, wie es Michael Schumacher geht?» – «Welcher Fahrer ist im Umgang der Angenehmste?» (Wahlweise: der Unangenehmste.) – «Welches sind Ihre Lieblingsrennen?»
Bei der letzten Frage pflege ich zu antworten: alle Austragungsorte, die mit M beginnen – Melbourne, Monte Carlo, Montreal, Monza und natürlich Maustin.» Okay, kleiner Kalauer, aber das mit dem M hat schon was für sich. Melbourne ist aus mehreren Gründen ein Ort, an dem die Formel 1 ein Zuhause gefunden hat.
Es ist einer jener Austragungsorte, wo sich der Grand-Prix-Zirkus von Herzen willkommen fühlt. Eine Woche lang herrscht in Melbourne Ausnahmezustand, und die sportverrückten Melbornians sind voll bei der Sache. Den Fans wird im Albert-Park Donnerstag bis Sonntag vom Morgen bis am Abend Action geboten – so sollte es überall sein!
Aber nicht immer wurde die Formel 1 hier mit offenen Armen empfangen, und das bringt mich zurück zu den kraftvollsten Erinnerungen rund um den Melbourne-Grand-Prix.
Von Australien nach Australien
Jetzt mal Hand aufs Herz: Hätten Sie noch gewusst, dass es in der Formel-1-WM zwei Grosse Preise von Australien in unmittelbarer Folge gegeben hat? Das WM-Finale 1995 fand in Adelaide statt. Da hatte der frühere Melbourne-Bürgermeister Ron Walker (am 30. Januar 2018 verstorben) längst einen Vertrag abgeschlossen, um Bernie Ecclestones Wanderzirkus nach Melbourne zu holen. Und so fand der WM-Auftakt 1996 in Melbourne statt.
Handschellen und tote Fische
Das Rennen war zunächst umstritten, Umweltschützer nahmen den Sportanlass ins Visier und sparten nicht mit einfallsreichen Aktionen. Vor Jahren heckten die Aktivisten von «Rettet den Albert Park» (Save Albert Park = SAP) jedes Jahr etwas Neues aus: Renngegner blockierten den Weg zur Rennstrecke und brüllten die Ausländer aus voller Kehle an, als würden wir Pest und Cholera in die Stadt bringen. Immerhin spuckten sie mich nicht an wie die Amerikaner nach dem Indy-GP 2005 (aber das ist wieder eine andere Geschichte).
Die fleissigen SAP-Mitarbeiter verteilten Flugblätter, ketteten sich ans Geländer der Boxengasse, schütteten tote Fische auf die Start/Ziel-Gerade (nein, wirklich!), der Phantasie waren offenbar keine Grenzen gesetzt. Ich habe immer gestaunt, wie gelassen die australischen Polizisten vorgingen.
Später behaupteten die SAP-Aktivisten: Die Grand-Prix-Organisatoren fälschten die Zuschauerzahlen. Zudem begünstige der Anlass übermässigen Alkoholkonsum und zu schnelles Autofahren. Die Polizei blieb gleichmütig und verwies auf die Statistik: An einem durchschnittlichen GP-Wochenende gibt es auf dem Gelände bei 300.000 bis 350.000 Besuchern kein halbes Dutzend Festnahmen. Das ist jetzt kein besorgniserregender Prozentsatz.
Heute ist es um SAP ruhig geworden: Der Grand Prix gehört zum Leben der Melbournians wie das Tennis-Turnier «Australian Open» oder ein Ausflug an den Strand von St. Kilda. Und aus dem Albert-Park – vor der Formel 1 eine vergammelte Schande – ist ein echtes Schmuckstück geworden.
Angst um Martin Brundle
Kurve 3 ist die gefährlichste Ecke des Albert Park Circuit: Hier zerlegte Martin Brundle bei der GP-Premiere von Melbourne 1996 seinen Jordan, nachdem er beim Anbremsen mit dem Sauber von Johnny Herbert und dem McLaren von David Coulthard kollidiert war. Im Pressesaal guckten wir uns schockiert an, und jeder Blick sagte: «Ich habe ein gaaaaanz mieses Gefühl.» Dann aber krabbelte Brundle aus dem Totalschaden und eilte zurück Richtung Box, als wäre nichts passiert. Dort schlüpfte der unerschrockene Engländer ins Ersatzauto (das gab es damals), weit kam er beim zweiten Start aber nicht – Kollision mit dem Wagen von Pedro Diniz, Ausfall. Als Brundle später die Aufnahmen seines Sturzfluges sah, war ihm der Ausfall egal. Er wusste, er hatte seinen zweiten Geburtstag gefeiert.
Jacques Villeneuve gibt Visitenkarte ab
Das Rennen 1996 blieb atemraubend. Denn um ein Haar hätte der kanadische Williams-Neuling Jacques Villeneuve, von der Pole-Position gestartet, an sich schon eine Sensation, sein GP-Debüt auch gleich gewonnen! Ein Ölleck entriss ihm den Sieg, der Québecois trug den Wagen als Zweiter hinter seinem Williams-Stallgefährten Damon Hill ins Ziel. Hill wurde 1996 Weltmeister, Villeneuve 1997.
Mark Webber, der Siegerpodest-Pirat
Mark Webber wurde mit seinem Minardi 2002 in seinem ersten Grand Prix Fünfter. Das war aus mehreren Perspektiven hochemotional: Minardi-Teambesitzer Paul Stoddart stammte aus Melbourne. Und Webber trug ein Auto ins Ziel, das an sich WM-punkteunfähig war. Siehe Startplatz 18 von 22. Mark entging aber dem üblichen Gerangel der Piloten auf dem tückischen Kurs und machte alles richtig. Nach dem Rennen tauchten Webber und Stoddart urplötzlich auf dem Siegerpodest auf. Der Jubel der Fans war grösser als zuvor bei den drei Erstplatzierten Schumacher, Montoya und Räikkönen. Stoddart wedelte mit einem kleinen Känguru in der Luft herum, mit Webber hielt er die australische Flagge hoch, kein trockenes Auge im Publikum. Eine Verletzung des Siegerpodestprotokolls ist bei der FIA kein Kavaliersdelikt, aber die Regelhüter reagierten mit gesundem Menschenverstand und schauten weg, als alle anderen hinschauten.
Was ist ein Durchflussmesser?
Daniel Ricciardo war nach dem Melbourne-GP 2014 überglücklich: Im ersten Rennen der neuen Turbo-Ära hatte er seinen Red Bull Racing-Renner als Zweiter ins Ziel gebracht, hinter Sieger Nico Rosberg. Am Abend verflüchtigte sich die Freude bei RBR: Wegen Unregelmässigkeiten bei der maximal zulässigen Benzindurchflussmenge wurde Daniel aus der Wertung genommen. Die Formel 1 schoss sich mit der Disqualifikation des Lokalhelden tüchtig in den Fuss: Die meisten Fans – von der mageren Geräuschkulisse sowieso genervt – verstanden nicht, wie zum Geier ein Benzindurchflussmesser funktioniert und wozu wir den überhaupt in unserem Lieblingsssport brauchen. Ein Fan brachte es auf den Punkt: «Ich verstehe die Regel nicht, ich will es auch nicht, ich will tollen Sport mit ohrenbetäubenden Rennwagen sehen, und den hatten wir nicht.»
Skandal um Mika Häkkinen und David Coulthard
Piffe und Buhrufe nach dem Grossen Preis von Australien 1998, die Fans waren richtig sauer. Und das kam so: Mika Häkkinen führte vor David Coulthard, aber in Runde 36 kam der Finne überraschend zur Box. Er hatte einen Funkbefehl falsch verstanden. Mika fuhr durch und ging gleich wieder ins Rennen, doch seine Führung war natürlich futsch. Neun Jahre später erzählte der damalige McLaren-Chef Ron Dennis übrigens, jemand habe sich in den Boxenfunk gehackt, um Häkkinen den falschen Befehl zu geben. Hm. Lassen wir das mal einen Moment bei Seite.
Kurz vor Schluss liess Coulthard seinen Teamgefährten vorbei. Auf der Start/Ziel-Geraden, damit es auch ja jeder sehen kann. Nach dem Rennen stellte sich heraus: Sie hatten vor dem Grand Prix vereinbart – wer nach der ersten Kurve führt, der bleibt vorne. Weil das Team fand, Mika habe die Führung nicht aus eigener Schuld verloren, gab es eine längere Funkdiskussion mit Coulthard. Der Schotte sagte Jahre später, er hätte nie klein beigeben dürfen. Weil damit die interne Hackordnung festgelegt worden sei.
Später befasste sich sogar der FIA-Weltrat mit dem Fall, weil der Verband fand, das Ansehen des Sports sei beschmutzt worden. Stallorder blieb ein siedend heisses Thema, nach dem Ferrari-Skandal in Österreich 2002 (Stichwort von Jean Todt an Rubens Barrichello: «Rubens, let Michael pass for the championship!») wurde Stallorder verboten, 2010 wurde das Verbot verboten. Stallorder bleibt bis heute umstritten.
Tod im Albert-Park
Im Jahr 2000 wurden Radseile in der Formel 1 zur Pflicht – sie verhindern im überwiegenden Teil der Unfälle, dass sich Räder vom Rennwagen lösen und jemanden erschlagen können. Die meist in der Schweiz hergestellten Seile aus Zylon verlaufen durch die Querlenker und sind am Radträger befestigt. Dennoch ging der Tod weiter in der Formel 1 um. Bei einem Unfall in Monza 2000 wurde der Feuerwehrmann Paolo Gislimberti von einem Rad des Jordan von Heinz-Harald Frentzen erschlagen. In Melbourne 2001 löste sich nach einer Kollision zwischen Ralf Schumacher (Williams) und Jacques Villeneuve (BAR-Honda) am Renner des Kanadiers ein Rad, es drang so unglücklich in eine Lücke im Zaun ein, dass es den Streckenposten Graham Beveridge tödlich verletzte. Rennchef Ron Walker sprach der Familie sein Beileid aus und konnte es nicht fassen: «Die Chance, dass ein Rad so durch den Zaun dringt, steht eins zu einer Million.»
Schock für Honda
Jenson Button wusste es nach den Wintertests, sein Stallgefährte Rubens Barrichello auch, alle Gegner von BrawnGP merkten es 2009 beim Saisonbeginn im Albert-Park: Die Autos aus Brackley, im Jahr zuvor noch als Honda-Werksteam am Start, waren krass überlegen. Wie hatte das passieren können? Im Frühsommer 2008, als klar war, dass der Honda RA108 nichts taugte, wurde die Entwicklung ganz auf 2009 gerichtet. Honda ging in Ehre: Das Team wurde für ein symbolisches Pfund Teamchef Ross Brawn überlassen, die Saison 2009 wurde von Honda finanziert, angeblich investierte Honda für 2009 mehr als 150 Millionen Dollar. Um gar nicht in der Formel 1 vertreten zu sein!
Es schmerzt die Honda-Chefetage bis heute, was dann passierte: Aufgrund der üppigen Entwicklungszeit und dank des tollen Technik-Kniffs des Doppeldiffusors eilten Jenson Button und Rubens Barrichello von Sieg zu Sieg. Von den ersten sieben WM-Läufen gewann der Engländer sechs, Barrichello doppelte in Valencia und Monza nach. Ein Formel-1-Märchen wurde wahr: Das Team, das Ende 2008 in Scherben lag, wurde Ende 2009 bei der FIA-Gala für die Titel bei den Marken und Fahrern geehrt. Obschon Red Bull Racing im Verlaufe der Saison immer stärker wurde, rettete Button seinen Vorsprung und liess sich in Brasilien als Champion feiern. Das Team wurde an Mercedes verkauft, der Rennstall seit Brackley holte von 2014 bis 2018 fünf WM-Titel in Folge.
Solche Geschichten schreibt nur die Formel 1.