Spanien: Lenkrad-Trick im Mercedes verblüfft Gegner
Lewis Hamilton fährt im Silberpfeil bereits Rennsimulationen, auf Rundenzeiten für die Gallerie wird verzichtet. Grosses Rätselraten im Fahrerlager: Welches Ass hat Mercedes hier aus Ärmel gezaubert, wenn Lewis Hamilton (auf Bordkamera-Aufnahmen klar zu sehen) auf der Geraden das Lenkrad zu sich zieht und vor der Kurve wieder von sich wegschiebt? Angestrebt wird hier wohl eine Änderung der Spur, denn gleichzeitig mit der Lenkrad-Bewegung scheinen sich die Vorderräder nach innen zu drehen.
Die Spur beschreibt die Längendifferenz, um welche die beiden Räder einer Achse vorne näher zusammenstehen als hinten. Sind die Räder vorne näher zusammen, so spricht man von positiver Spur oder Vorspur, umgekehrt von negativer Spur oder Nachspur. Im Rennwagen verbessern Änderungen an der Spur Fahrverhalten und Aerodynamik. Der grosse Kniff für einen Formel-1-Renner: Das Auskühlen der Reifen auf den Geraden kann minimiert werden, denn ein leicht nach innen zeigender Reifen heizt sich stärker auf. Dass es hier vorrangig um bessere Nutzung der Reifen geht, wird von der Tatsache unterstrichen, dass Hamilton das System nicht ständig nutzt.
Wir hören bereits den Einwand der Konkurrenz – das sei als bewegliche Aerodynamik einzustufen, daher verboten. Was finden wir dazu im Reglement?
Artikel 10.2.2 beschreibt, dass jede Vorrichtung, welche die Leistungsfähigkeit der Aufhängung während der Fahrt verbessert, untersagt sei. Artikel 10.2.3. besagt, dass jede Veränderung an der Aufhängung nur dann ausgeführt werden darf, wenn der Wagen stillsteht. Die Servo-Lenkung (in jedem GP-Renner zu finden) muss so gebaut sein, dass sie lediglich die körperliche Anstrengung des Piloten verringert, sie darf nicht für andere Zwecke gebracht werden (wie etwa dafür, die Spur zu ändern). Im Reglement steht aber auch, dass mit der Lenkung die Position der Vorderräder verändert werden darf. Und genau dies tut das Mercedes-System.
Mercedes ist nicht aus Zufall Formel-1-Weltmeister geworden. Clevere Systeme werden von den Rennställen jeweils den FIA-Regelhütern vorgelegt. Kaum vorstellbar, dass Mercedes dies mit dem Lenkrad-Trick nicht getan hat. Zumal das System nicht nur zum Testen gedacht ist, sondern soll bei Rennen zum Einsatz kommen soll.
Sollte Mercedes das System perfektionieren und die FIA hat keinen Einwand, dann handelt es sich hier um einen markanten Wettbewerbsvorteil, im besten Fall ist den Mercedes-Technikern hier ein Kniff eingefallen, welcher den Weg zu siebten WM-Titel in Folge ebnet. Nur ein Top-Team kann auf so etwas reagieren und auch dies bestimmt nicht in wenigen Wochen.
Ein Blick in die Zeitenliste des zweiten Barcelona-Testtags drängt uns zum guten Rat: Trauen Sie bitte Ihren Augen nicht. Sergio Pérez (Racing Point) vor Daniel Ricciardo (Renault) und Alex Albon (Red Bull Racing-Honda), das wird kaum dem Siegerpodest von Melbourne entsprechen, und sollte George Russell mit seinem Williams in Australien vor Ferrari und Mercedes auftauchen, dann wird der SC Paderborn auch deutscher Fussballmeister.
Fakt ist: Die Testbedingungen von Barcelona und die Quali-Verhältnisse von Australien bieten kaum Schnittmengen. Allein die unterschiedlichen Luft- und Asphalttemperaturen werden die Reihenfolge durcheinanderwirbeln. Weiterer Punkt: Die zehn Rennwagen sind in Spanien der Erfahrung nach selten zum gleichen Zeitpunkt unter identischen Bedingungen auf der Bahn. Seine persönliche Bestzeit am Morgen zu fahren, wenn die Luft kühler ist, oder am Nachmittag, das ist etwas ganz Anderes.
Nächste Fragezeichen: Zeigen uns die Rennställe wirklich, was sie können? Wer’s glaubt, wird selig. Wieviel Ballast ist noch im Wagen, der dann in Australien rausgenommen wird? Sind die Autos bei der Rennsimulation in Katalonien mit passender Menge Kraftstoff unterwegs? Wer will die Konkurrenz geschickt in falsche Sicherheit wiegen? 2018 beispielweise verzichtete Mercedes hartnäckig auf den Einsatz der weichsten Pirelli-Mischungen. Lewis Hamilton war im Abschlusstraining von Melbourne dennoch schnellster Mann, dank einer überirdischen Runde.
Ebenfalls zu bedenken: Die meisten Teams werden Evo-Teile nach Melbourne bringen, auch das verschiebt das Bild, abhängig davon, wie gut sich die jüngsten Verbesserungen bewähren. Ich erinnere mich an ein gutes Beispiel fürs Zerrbild Testfahrten – als Jean Alesi im Jahre 2001 im Prost-Rennwagen in Estoril (Portugal) zwei Tagesbestzeiten zeigte und die Konkurrenz um eine satte Sekunde in Grund und Boden fuhr. Prost holte anschliessend im Laufe der Saison vier kümmerliche Punkte!
Und als wir Barcelona vor einem Jahr verliessen, hielt so mancher Insider Ferrari für den WM-Favoriten, dann kam für die Tifosi in Australien die kalte Dusche.
Nein, die Barcelona-Zeitenliste ist gewiss kein Spiegel des aktuellen Kräfteverhältnisses. Aber wir können dennoch erzählen, was an diesem Testmorgen alles passiert ist.
Racing Point bestätigt den guten Eindruck, den der Vorjahres-Mercedes, pardon, der neue RP20 hinterlassen hat. Technikchef Andy Green hat übrigens ausführlich darüber gesprochen, wieso der Pink Panther wie ein umlackierter Silberpfeil aussieht. Green und seine Kollegen scheinen den Wagen schon recht gut im Griff zu haben. Sergio Pérez lobt: «Ich bin wirklich angetan. Klar stehen wir mit diesem Wagen noch ganz am Anfang, aber das läuft bislang sehr vielversprechend.»
Der neue Williams läuft standfest und mit stattlichem Tempo. Mercedes-Zögling George Russell ist zufrieden: «Das ist mit dem Wagen von 2019 überhaupt nicht zu vergleichen. Der Wagen sieht nicht nur besser aus, er ist auch ungleich schneller und läuft bislang standfest. Wir haben in allen Belangen zugelegt.»
Ferrari fährt mit viel Sprit und ist ebenfalls nicht an schnellen Rundenzeiten interessiert, das hat Charles Leclerc nach dem ersten Testtag bestätigt.
Barcelona-Test, Tag 2
1. Sergio Pérez (MEX), Racing Point RP20-Mercedes, 1:17,347 (48 Runden) C3
2. Daniel Ricciardo (AUS), Renault RS20, 1:17,749 (41) C3
3. Alex Albon (T), Red Bull Racing RB16-Honda, 1:18,155 (59) C2
4. Pierre Gasly (F), AlphaTauri AT01-Honda, 1:18,165 (77) C3
5. George Russell (GB), Williams FW43-Mercedes, 1:18,266 (71) C3
6. Charles Leclerc (MC), Ferrari SF1000, 1:18,335 (49) C3
7. Lewis Hamilton (GB), Mercedes W11, 1:18,387 (106) C2
8. Romain Grosjean (F), Haas VF-20-Ferrari, 1:18,496 (87) C3
9. Kimi Räikkönen (FIN), Alfa Romeo-Sauber C39-Ferrari, 1:18,525 (65) C3
10. Lando Norris (GB), McLaren MCL35-Renault, 1:18,537 (48) C2
Pirelli-Reifen von C1 (hart) bis C5 (extraweich)
Barcelona-Test, Tag 1
1. Lewis Hamilton (GB), Mercedes W11, 1:16,976 (94 Runden) C2
2. Valtteri Bottas (FIN), Mercedes W11, 1:17,313 (79) C3
3. Sergio Pérez (MEX), Racing Point RP20-Mercedes, 1:17,375 (58) C3
4. Max Verstappen (NL), Red Bull Racing RB16-Honda, 1:17,516 (168) C3
5. Daniil Kvyat (RU), AlphaTauri AT01-Honda, 1:17,698 (116) C3
6. Carlos Sainz (E), McLaren MCL35-Renault, 1:17,842 (161) C3
7. Daniel Ricciardo (AUS), Renault RS20, 1:17,873 (55) C2
8. Esteban Ocon (F), Renault RS20, 1:18,004 (62) C3
9. George Russell (GB), Williams FW43-Mercedes, 1:18,168 (73) C3
10. Lance Stroll (CDN), Racing Point RP20-Mercedes, 1:18,282 (52) C2
11. Charles Leclerc (MC), Ferrari SF1000, 1:18,289 (132) C3
12. Nicholas Latifi (CDN), Williams FW43-Mercedes, 1:18,382 (63) C3
13. Robert Kubica (PL), Alfa Romeo-Sauber C39-Ferrari, 1:18,386 (59) C3
14. Kevin Magnussen (DK), Haas VF-20-Ferrari, 1:18,466 (106) C3
15. Antonio Giovinazzi (I), Alfa Romeo-Sauber C39-Ferrari, 1:20,096 (79) C3