History: Grand-Prix-Renner für Selbstmordversuch
Glücklicherweise kommt das nur ganz selten vor – Fans auf einer Formel-1-Rennstrecke, während der Grand Prix noch läuft. Wenn wir zurückblicken, müssen wir froh sein, dass es dabei nicht Dutzende von Toten gegeben hat. Einer der skurrilsten Vorfälle passierte 1991 in Phoenix (Arizona).
Anfang der 90er Jahre waren wir mitten in der Ära der Vorqualifikation: Damals war das Formel-1-Feld so reichhaltig, dass jeweils am Freitagmorgen aussortiert werden musste – acht Fahrer traten an, nur vier kamen weiter. Die Vorquali des USA-GP in Phoenix wurde nach wenigen Minuten mit der roten Flagge unterbrochen.
Wie sich herausstellte, war ein Mann namens Marlon Rauvelli aus den nahen Maricopa-Krankenhaus ausgebüchst, an Krücken zur Rennstrecke gehumpelt und auf den Strassenkurs vorgedrungen – in der Absicht, sich dort vom nächstbesten Formel-1-Auto überrollen zu lassen!
Lamborghini-Pilot Eric van de Poele zischte zum Glück um Haaresbreite am Lebensmüden vorbei, der anschliessend von Sicherheitskräften aufgelesen und ins Krankenhaus zurückgebracht wurde. Was aus Herrn Rauvelli geworden ist, wissen wir nicht, was aus dem Phoenix-GP wurde, schon: Das unbeliebte Rennen (1991 nur 18.500 zahlende Zuschauer) verschwand aus dem WM-Kalender.
Immer wieder kommt es vor, dass sich Formel-1-Rennfahrer unerwartet Menschen auf der Rennstrecke gegenübersehen. Im Singapur-GP 2015 meldete sich Ferrari-Star Sebastian Vettel über Funk: «Äh, da ist ein Mann auf der Strecke!» Eine Person spazierte über die Bahn, hüpfte über die Begrenzungsmauer und verschwand.
Das mit dem Verschwinden hat damals freilich nicht so gut geklappt, wie es sich Yogvitam Pravin Dhokia wohl gewünscht hätte – kurz nach seinem idiotischen Auftritt wurde der Brite verhaftet. Im November 2015 wurde Dhokia zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, darüber hinaus musste er 2500 Singapur-Dollar Geldstrafe zahlen, damals rund 1600 Euro. Die ganze Aktion hatte er durchgeführt, um Videos von den vorbeifahrenden Boliden zu machen, wie er der Polizeit erklärte. Dazu hatte er sich gemäss eigener Angaben tüchtig Mut angetrunken.
Jahrelang war eine Pisteninvasion der ganz normale Abschluss jedes Grossen Preises von Italien in Monza. Viele Tifosi nahmen es mit dem Fallen der Zielflagge nicht so genau. Wenn wir zurückblicken, müssen wir froh sein, dass es dabei nicht Dutzende von Toten gegeben hat! Solche Szenen spielten sich auch in Hockenheim oder Silverstone ab.
Apropos Silverstone: Unvergessen der frühere Geistliche Cornelius «Neil» Horan, der im britischen Grand Prix 2003 auf die Silverstone-Strecke rannte, um auf die Worte des Herrn aufmerksam zu machen (auf seinem Schild stand: «Lest die Bibel. Die Bibel hat immer Recht»). Das Einzige, was wirklich nah war, war sein eigenes Ende: Der Jaguar von Mark Webber verpasste den irren Priester nur um Haaresbreite.
In seiner Autobiographie «Aussie Grit» schrieb Webber: «Es war das Unglaublichste, was ich je auf einer Rennstrecke gesehen habe. Mir war völlig einerlei, wofür der Kerl protestieren wollte – er brachte sich, mich und andere in Lebensgefahr. Es machte mich fuchsteufelswild, dass er das in Kauf nahm.»
Aber gegen den Wahnsinn von Mexiko 1970 waren Singapur oder Silverstone Kinderkram. 200.000 Fans wollten sich damals das Geschehen nicht entgehen lassen, und als viele von ihnen merkten, dass sie wohl nicht aufs Gelände kommen würden, trampelten sie kurzerhand die Zäune nieder und hockten sich zufrieden an den Rand der Rennstrecke ins Gras.
In der Rennleitung wurde erwogen, das Rennen platzen zu lassen. Aber die mexikanischen Organisatoren fürchteten Randale, wenn der Menge nichts geboten würde. Einigen dauerte das alles sowieso schon viel zu lang. Also warfen sie Flaschen und dergleichen auf die Bahn.
Lokalheld Pedro Rodríguez und Weltmeister Jackie Stewart wurden auf die Bahn geschickt, um den Fans ins Gewissen zu reden. Wenn Stewart und ihr Idol Pedro vor ihnen standen, nickten die Fans, begaben sich brav hinter die Leitschienen, und sobald der Schotte und sein mexikanischer Rennfahrerkollege ausser Sicht waren, rückten sie wieder auf die Grasnarbe vor.
Nach weiterer Verspätung (wegen der Scherben auf der Bahn) wurde das Rennen freigegeben, und die mexikanischen Esel störte es nicht weiter, dass Autos mit 300 Sachen an ihnen vorbeibrausten. Stewart überfuhr dann tatsächlich einen Pistenbesucher – einen streunenden Hund. «Es ging so schnell, dass ich nichts machen konnte.»
Der Autoverband nahm zur Strafe das Rennen aus dem Kalender, erst 1986 wurde wieder in Mexiko ein WM-Lauf durchgeführt.
Gut eine Viertelstunde nach Beginn des zweiten freien Trainings zum Grossen Preis von China 2015 rannte ein schwarzgekleideter Mann, offenbar von der Haupttribüne kommend, quer über die Start/Ziel-Gerade, ungefähr auf Höhe der Ziellinie, und hechtete gekonnt über die Boxenmauer Richtung Ferrari-Garage. Der Mann bewegte sich zielstrebig Richtung Ferrari-Box, wurde jedoch von Sicherheitskräften überwältigt, bevor er in den Bereich von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen eindringen konnte. Die Sicherheitskräfte übergaben den möglicherweise geistig Verwirrten daraufhin der Polizei. Augenzeugen zufolge hat der Mann auf Chinesisch geäussert, er wolle einen Formel-1-Renner fahren.
Im Jahre 2000 drang der 47jährige Robert Sehli, ein ehemaliger Angestellter von Mercedes, auf die Hockenheim-Rennstrecke vor, er war aus dem Dickicht der ersten Waldgeraden auf den Grünstreifen neben der Bahn gelangt. Der Franzose wollte mit seiner Aktion gegen eine seiner Meinung nach ungerechtfertigte Entlassung protestieren – was auf einer weissen Pellerine stand, die er trug. Selhi erhielt später eine Busse von 200 D-Mark. Und von einem französischen Gericht eine Wiedergutmachung in Höhe von rund 12.000 Dollar – der Richter fand ebenfalls, dass Selhis Entlassung nicht korrekt war.