Pit Beirer (KTM): «Bewegen uns auf dünner Eisdecke»
Pit Beirer
Manche «Motorradfans» schlagen zwar eine komplette Absage der Saison 2020 vor, weil sie als Zuschauer nicht an den Grand Prix teilnehmen können. Aber diese Anhänger vergessen, dass weltweit eine riesige Industrie mit Zehntausenden Arbeitsplätzen hinter dem Motorsport steht, bei den Veranstaltern, den Promotern, bei den Teams, Werken, Herstellern, Ausrüstern und Rennstreckenbetreibern.
Schon die fast neunmonatige MotoGP-Rennpause von Mitte November in Valencia bis Jerez (19. und 26. Juli) verursachte bei vielen Beteiligten Existenzängste. Die Dorna musste die privaten GP-Teams mit einem Rettungsschirm retten.
KTM-Motorsport-Direktor Pit Beirer hat in den verschiedenen Disziplinen von MotoGP über Supercross, Motocross und Enduro bis zur Rallye-Szene für die drei Marken KTM, Husqvarna und GasGas nicht weniger als 58 Werksfahrer und 480 Teammitglieder unter Vertrag.
Deshalb betonte Beirer schon im April im Interview mit SPEEDWEEK.com: «Wir können uns keine Schockstarre von mehreren Monaten leisten.»
Umso erleichterter zeigt sich Beirer jetzt, weil sich mit Jerez im Juli ein überraschend früher Neustart abzeichnet. Als vor wenigen Wochen am Höhepunkt der Pandemie weitgehend Tristesse herrschte und es außer den dramatischen Opferzahlen in Italien, Spanien und Frankreich kaum ein Gesprächsthema gab, schien ein Rennstrecken-Comeback im Juli in weite Ferne gerückt.
Pit, du hast zu Zeiten der absoluten Covid-19-Düsternnis gesagt: Ende Juni satteln wir die Pferde, im Juli kehren wir wieder auf die Rennstrecke zurück. Aber es gab eine Phase, in der ein Neustart im Juli in weiter Ferne schien. Deine Kollegen von Ducati und Yamaha tippten vor zwei Wochen noch eher auf September und Oktober.
Ja, natürlich haben die Fallzahlen und alles, was da passiert ist, damals für mich genau so bedrohlich wie für jeden anderen ausgeschaut. Aber ich war immer der Meinung, dass man im April noch nicht das ganze Rennjahr abschreiben darf und der Virus nicht unsere ganze Rennsaison zerstören wird.
Ich habe unsere interne Planung immer darauf ausgerichtet, dass wir 2020 in der zweiten Jahreshälfte noch einmal zum Rennen fahren kommen. Ich bin sehr glücklich, dass es jetzt wieder erfreulich aussieht.
Wir bewegen uns trotzdem immer noch auf einer dünnen Eisdecke. Aber momentan sind die Anzeichen alle gut, und wir freuen wir uns sehr darüber, dass es aufwärts geht.
Ich habe ja immer betont: Wir können die Saison im Notfall sehr schnell beenden, indem wir alle Teammitglieder anrufen und ihnen mitteilen: «Das war’s.»
Aber der April war als Zeitpunkt zu früh, um die Hoffnung komplett aufzugeben.
Jetzt bleiben nur noch zwei Monate, um den Neustart in Jerez in die Wege zu leiten.
Uns trifft der neue Kalender nicht aus heiterem Himmel, weil wir uns seit Wochen genau auf so ein Szenario extrem gut vorbereitet haben.
Auch in Italien keimt Hoffnung. Dort wurde das traditionelle Profiradrennen Mailand-San Remo für 8. August neu angesetzt. Also könnte Misano Mitte September auch machbar sein – ohne Zuschauer.
Ja, die Italiener haben einen brutalen Shutdown hinter sich, den längsten Hausarrest aller Länder in Europa.
Aber wie wir unsere italienischen Freunde kennen: Sobald die kleinste Lücke aufgeht, werden sie wieder Rennsport betreiben und am Motorsport interessiert sein. Auch Italien ist als GP-Schauplatz 2020 nicht mehr ganz weit weg.
Der Virus zeigt in allen Ländern einen ähnlichen Verlauf. Die Infektionsraten steigen zuerst an wie verrückt, es kommt zu einem Höhepunkt, dann kommen die strengen Maßnahmen, nachher flacht die Kurve wieder ab.
Wenn die Eindämmung der Pandemie überall ähnliche Fortschritte macht wie zum Beispiel in Österreich, Deutschland und in der Schweiz und die Kurve überall abflacht, werden wir in der zweiten Jahreshälfte noch in Europa einen guten Bewegungsradius bekommen.
Aber Deutschland will die Grenzen zu Österreich und zur Schweiz vorläufig nicht öffnen, weil beide Länder eine gemeinsame Grenze zum stark betroffenen Italien haben. Diese beiden Grenzen werden wohl erst im Juli geöffnet – damit der Tourismus angekurbelt wird.
Ja, jene Länder, die ein ähnlich rigorose Strategie gefahren sind, verzeichnen jetzt ähnliche Erfolge und können Lockerungen anordnen. Deshalb kann man sich bilateral schneller verständigen und auf Reisefreiheit einigen. Italien und Spanien müssen langsamer und behutsamer vorgehen. Das ist alles eine Frage der Zeit. Jedes Land versucht sich anders zu schützen und verordnet andere Regeln. Natürlich sind manche Vorschiften sinnlos, andere sind sinnvoll.
Aber durch die schnelle Reaktion der Regierungen in Deutschland und Österreich haben wir bei uns alles gut im Griff. Deshalb bieten sich für uns wieder erfreuliche Perspektiven.
Wir müssen trotzdem schlau bleiben und die Lockerungen nicht übertreiben, damit die Situation nicht ins Gegenteil kippt und uns eine zweite Infektionswelle droht.
Es ist Zeit wieder rauszugehen. Wir müssen wieder anfangen zu leben. Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken und uns den ganzen Tag vor dem Virus zu fürchten.
Zumindest 2020 wird man sich an eine andere MotoGP-Normalität gewöhnen müssen. Die Zuschauer werden fehlen, es wird eine Stimmung herrschen wie sonst bei einem Test vor leeren Tribünen.
Ja, es wird sich einiges ändern. Ich habe gestern zum Beispiel im Office in Munderfing meinen ersten Schnelltest gemacht. Nach ca. 20 Minuten stand das negative Ergebnis fest. Wir werden solche Tests vor jeder Abreise zu einem Grand Prix machen, dann werden wir durch die Dorna bei der Ankunft wieder getestet. Und jeden Tag wird bei uns das Fieber gemessen. Das kenne ich bereits von meinen Pendlerfahrten zwischen Simbach und Munderfing.
Ich bin froh, dass ich in einem Land lebe, von dem ich weiß, hier geht die Regierung mit diesem Thema ordentlich um, ich bekomme einen Platz im Krankenhaus, auch wenn ich keine Covid-19-Infektion habe.
Man muss aber klar sehen: Der Virus hat sich anfangs rasch verbreitet, inzwischen ist er in einer logischen Kurve abgeflacht, wie es die Experten vorausgesagt haben.
Dass wir im Juli schon zwei MotoGP-Events im Kalender haben, freut mich besonders.