Unbekannte Helden: Die Ingenieure von Mercedes-Benz
Der Kommandostand von Mercedes
Lewis Hamilton ist gewissermassen die Silberpfeilspitze: Er ist der berühmteste Repräsentant von Dauer-Weltmeister Mercedes-Benz in der Formel 1. Den Fans ist auch Teamchef Toto Wolff vertraut sowie natürlich die österreichische Rennlegende Niki Lauda, Aufsichtsrats-Chef des Rennstalls. Dann wird es schon schwieriger. Nur echten Fans sind Namen bekannt wie James Allison (Technikchef), Andrew Showlin (leitender Ingenieur), James Vowles (Strategiechef) oder Pete Bonnington (Hamiltons Renningenieur). Erst recht im Verborgenen wirken Dutzende von Technikern an der Rennstrecke, welche in der Box ihrer Arbeit nachgehen und Hunderte Spezialisten in den Rennwagenwerken von Brackley (Chassis) und Brixworth (Motoren).
Die Arbeit lässt sich einfach teilen. Die Aufgabe der Spezialisten in den Werken ist es, das Chassis und die Antriebseinheit zu konstruieren und zu optimieren. Die begrenzte Anzahl an Ingenieuren, die mit an die Rennstrecke reisen dürfen, ist dafür zuständig, an jedem Rennwochenende die bestmögliche Leistung aus dem Auto herauszuholen. Anders formuliert: Ein Rennen wird an der Strecke gewonnen, die Weltmeisterschaft aber in der Fabrik.
Ungefähr 15 bis 20 Ingenieure reisen zu einem Rennen wie jetzt nach Brasilien. Wie bei allen Positionen im Team stellt das Personal an der Rennstrecke nur die Spitze des Eisbergs dar. Die Ingenieure arbeiten an der Strecke an verschiedenen Orten. Vor und nach jeder Session treffen sie sich dann alle für das Ingenieurs-Meeting in einem Raum. Während der Sessions sind einige in der Box, andere am Kommandostand.
Direkt an der Strecke sitzen jene Ingenieure, die für beide Autos verantwortlich sind. Die Ingenieure in der Box sind hingegen grösstenteils entweder für das Auto mit der Nummer 44 (Lewis Hamilton) oder das mit der Nummer 77 (Valtteri Bottas) zuständig. An der Boxenmauer sitzen bei Mercedes diese fünf Personen ...
Mercedes-Benz: 5 Mann am Kommandostand
Ron Meadows, der Sportdirektor des Teams, sitzt auf der linken Seite am Kommandostand. Seine Rolle ist es sicherzustellen, dass das Team immer in Übereinstimmung mit dem sportlichen Reglement der FIA agiert. Sollte es ein Problem geben, spricht er mit Rennleiter Charlie Whiting. Bei den Boxenstopps arbeitet Ron auch mit dem Chefstrategen James Vowles zusammen. Er ruft die Mannschaft heraus und stellt sicher, dass die richtigen Reifen für den Stopp vorbereitet werden.
Andrew Shovlin, Trackside Engineering Director, sitzt an der Boxenmauer rechts neben Ron. Andrews Aufgabe ist es, an jedem Wochenende die beste Performance aus beiden Autos herauszuholen. Er arbeitet sehr eng mit den Ingenieuren auf beiden Seiten der Box sowie den Performance-Gruppen in der Fabrik zusammen, um dafür zu sorgen, dass beide Autos von den verfügbaren Informationen bestmöglich profitieren. Wenn zum Beispiel die Ingenieure von Lewis eine Verbesserung für die Abstimmung finden, wird das Team damit auch das Auto von Valtteri verbessern und umgekehrt.
Auf dem mittleren Platz am Kommandostand sitzt James Allison. Als Technischer Direktor ist er für den technischen Betrieb an der Strecke und in der Fabrik verantwortlich. Deshalb ist er auch nicht bei jedem Rennen vor Ort. Wenn er nicht an der Rennstrecke ist, übernimmt normalerweise ein zweites Mitglied aus dem Strategie-Team seinen Platz.
Neben James Allison sitzt Chefstratege James Vowles. Er entwickelt gemeinsam mit einer Gruppe an Strategen im Race Support Room (RSR) in Brackley die Strategie, die das bestmögliche Ergebnis für das Team verspricht. James hat das letzte Wort bei allen Strategieentscheidungen. Er entscheidet, wann die Autos an die Box kommen und welche Reifen aufgezogen werden.
Simon Cole, Chief Engineer Trackside, sitzt aussen rechts am Kommandostand. Er beobachtet die Zuverlässigkeit beider Autos und ist die erste Anlaufstelle für die FIA an der Rennstrecke mit Blick auf das technische Reglement. Während viele Leute in der Box und im RSR verschiedene Systeme überwachen, um zu sehen, ob alles korrekt funktioniert, entscheidet Simon darüber, ob wir ein Auto an die Box rufen oder abstellen müssen. Er steht auch in Kontakt mit den Renningenieuren und informiert sie darüber, ob der Fahrer seinen Fahrstil anpassen soll, um sicherzustellen, dass eine Komponente keinen kritischen Zustand erreicht, zum Beispiel, wenn der Bremsverschleiss oder bestimmte Temperaturen im kritischen Bereich liegen.
Teamchef Toto Wolff: Lieber in der Box
Toto Wolff sitzt in der Box am Ende der Ingenieurs-Station. Während viele andere Teamchefs an der Boxenmauer sitzen, bevorzugt Toto es, während der Sessions in der Box zu sein. «Das Risiko jemanden abzulenken, ist viel höher als der Mehrwert, den es bringen würde. Deshalb denke ich, dass es für meine Rolle wichtiger ist, in der Box zu sein und einen Überblick zu haben, als am Kommandostand zu sitzen», erklärt der Wiener.
Neben ihm sind auf jeder Seite jeweils die Renningenieure untergebracht – Peter Bonnington auf der Seite von Lewis, Tony Ross auf Valtteris Seite. Sie stehen neben den beiden Performance-Ingenieuren, Riccardo Musconi für Nr. 44 und Marcus Dudley für Nr. 77. Neben den Performance-Ingenieuren sitzt auf Valtteris Seite ein Aerodynamiker und auf der Seite von Lewis ein Reifeningenieur. Sowohl der Vertreter der Aero-Abteilung als auch der Reifeningenieur sind jeweils für beide Autos verantwortlich. Der letzte Arbeitsplatz an der Ingenieurs-Station wird normalerweise von den jeweiligen Nummer-1-Mechanikern besetzt.
An jedem Auto gibt es fünf Schlüsselingenieure: den Renningenieur, den Performance-Ingenieur, den Kontroll-Ingenieur, den Motor-Performanceingenieur und den Motor-Systemingenieur. Die Aufgabe des Renningenieurs ist es, als Bindeglied zwischen dem Team und dem Fahrer zu agieren. Der Renningenieur ist der einzige Kontakt zum Fahrer, wenn dieser im Auto ist. Er ist ein zweites Paar Augen und Ohren für den Fahrer und informiert diesen über die Situation auf der Strecke. Welche Rundenzeiten fahren die anderen Fahrer? Kommt er bald in Verkehr? Gibt es Gefahrenstellen auf der Strecke? Der Renningenieur ist der Hauptkontakt für alle in der Fabrik, um über das Feedback vom Fahrer aus dem Auto informiert zu werden. Er unternimmt alles in seiner Macht Stehende, um seinem Fahrer die bestmögliche Leistung zur Verfügung zu stellen und sicherzustellen, dass das Rennwochenende rund und erfolgreich verläuft.
Der Performance-Ingenieur arbeitet sehr eng mit dem Renningenieur zusammen – vor, während und nach dem Rennwochenende. Während sich der Renningenieur mehr um die sichtbaren Bereiche kümmert, also sicherstellt, dass das Auto und die Abläufe korrekt funktionieren, vertieft sich der Performance-Ingenieur mehr in das Innere des Autos und brütet über der Telemetrie und den Simulationen. Danach gibt er dem Fahrer Ratschläge, wie er die letzten Millisekunden aus dem Fahrzeug herausholen kann. Er achtet auch auf bestimmte Performance-Subsysteme wie das Differential (etwa die Menge an Drehmomentübertragung zwischen den Hinterrädern) oder die Bremsbalance. Auf Basis der Daten aus dem Auto gibt er Feedback an den Renningenieur, der wiederum den Fahrer über die Einstellungen informiert, die versprechen, am schnellsten zu sein; zum Beispiel durch das Verändern der Bremsbalance in einer bestimmten Kurve.
Die Rolle des Kontrollingenieurs ist es, sich auf die Kontrolle des Autos zu konzentrieren, etwa die elektronische Kontrolle des Getriebes mit verschiedenen Schaltmustern. Er stellt sicher, dass die Einstellungen korrekt sind und die bestmögliche Performance bieten, ohne eine Gefahr für die Zuverlässigkeit des Autos darzustellen. Die offensichtlichste Aufgabe des Kontrollingenieurs ist es, die Vorbereitungen für die Rennstarts durchzuführen.
Auf Motorenseite gibt es zwei Ingenieure: Der Motor-Performanceingenieur arbeitet daran, die Performance der Power Unit zu optimieren; der Motor-Systemingenieur achtet auf die Zuverlässigkeit der PU. Wenn sie einen Weg finden, um mehr Leistung abzurufen oder wenn sich ein potenzieller Defekt anbahnt, spricht der Renningenieur mit dem Fahrer, um die Einstellungen der Power Units zu verändern. Jeder Zuschauer hat die Teams schon über Motor-Modi sprechen hören, ein Mass dafür, wie stark die PU belastet wird. Neben vielen anderen Dingen stellen die PU-Ingenieure sicher, dass der Einsatz der Modi während des Wochenendes optimiert ist, um die bestmögliche Kombination aus Performance und Zuverlässigkeit zu erreichen. Diese Funkmitteilungen beginnen mit "HPP Switch" - HPP ist die Abkürzung für Mercedes-AMG High Performance Powertrains, die Motorenfabrik des Teams in Brixworth.
Es war einmal vor langer Zeit... da saßen die Renningenieure ebenfalls am Kommandostand. Heute sitzen sie jedoch in der Box. Das bringt bestimmte Vorteile mit sich: Alle sind näher zusammen und es ist einfacher, miteinander zu sprechen. Es ist auch ruhiger und die Renningenieure müssen nicht durch die Boxengasse, wenn sie in die Box möchten. Wenn der Fahrer während des Trainings in der Box ist, können die Ingenieure ohne Funk mit ihm sprechen.
In der Box können die Ingenieure auch sehen, welche Reifensätze für einen Boxenstopp vorbereitet werden und können die Reifenwahl direkt korrigieren, sollten sie einen Fehler entdecken.
Es gibt aber auch einen Nachteil: die Renningenieure können das Wetter innerhalb der Box nicht erkennen. Wenn es regnet, wissen sie nicht, wie stark der Regen ist und wenn es windig ist, wissen sie nicht, wie stark die Windböen sind. Deshalb verlassen sie sich auf detaillierte Informationen vom Kommandostand und den Fahrern, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Obwohl die Ingenieurs-Station in der Mitte der Box erst vor wenigen Jahren eingeführt wurde, hat sie bereits einen Spitznamen erhalten. Im Fahrerlager wird sie liebevoll als «Fantasy Island» bezeichnet. Gerüchten zu Folge wurde der Name gewählt, um die innovativen und manchmal etwas ungewöhnlichen Ideen der Ingenieure widerzuspiegeln, die sie sich ausdenken, um mehr Performance zu finden.