Wie Andrea Dovizioso aus dem Schatten der Stars trat
Andrea Dovizioso mit Ducati-Rennchef Gigi Dall'Igna
Der Motorradrennsport beschert uns jedes Jahr, fast jedes Wochenende, saftige Überraschungen.
Movistar-Yamaha-Neuling Maverick Viñales war nach den Wintertests 2016/2017 der haushohe Favorit für den MotoGP-Titel 2017. Klar, Marc Márquez durfte man nicht unterschätzen. Aber Maverick schüttelte eine Bestzeit nach der andern aus dem Ärmel.
Er stürzte nie, er dominierte mit der M1-Yamaha die Tests in Valencia, in Sepang, in Phillip Island und stellte auch in Losail/Katar beim Pre-Season-Test seinen Mann.
Valentino Rossi würde natürlich auch wieder vorne mitmischen, konstant punkten, die Titelanwärter herausfordern.
Dani Pedrosa? Auch er würde da sein, eine Rolle spielen, dazu einen Grand Prix im Jahr gewinnen, vielleicht auch zwei. Aber warum sollte er ausgerechnet in seiner zwölften Saison über sich hinauswachsen, den überragenden Teamkollegen Márquez übertrumpfen und im Repsol-Honda-Team den Titel abräumen?
Aber von diesem Quartett hat nur Weltmeister und WM-Leader Marc Márquez über die ganze Saison hinweg die Erwartungen erfüllt.
Der Repsol-Honda-Star kommt mit 21 Punkten Vorsprung zum WM-Finale. Er braucht bei einem Dovizioso-Sieg in Valencia nur einen elften Platz zum Titelgewinn.
Und sein Herausforderer heißt weder Viñales noch Rossi oder Pedrosa.
Es handelt sich um Andrea Dovizioso, also um jenen Rennfahrer, der in der MotoGP-WM zwar im Regen von Silverstone im Juli 2009 auf der Repsol-Honda gewann, dann nach sieglosen 2653 Tagen am 29. Oktober 2016 auf der Ducati im Regenrennen von Sepang triumphierte und eigentlich als hoffnungsloser Fall galt, wenn von den Titelanwärtern 2017 die Rede war.
Kein Wunder: Ein Fahrer, der nur alle siebeneinhalb Jahre gewinnt, und dann nie auf trockener Fahrbahn, der im Frühjahr 2016 fast wegen Andrea Iannone aus dem Ducati-Werksteam geflogen wäre, der 2016 bis zum Brünn-GP in der WM hinter Ducati-Privatfahrer Barbera lag, wie sollte der gegen die wahren Stars bestehen?
Zumal «Dovi» in der WM 2016 als WM-Fünfter insgesamt 171 Punkte auf Marc Márquez eingebüßt hatte?
Ducati engagierte Lorenzo – ein Misstrauensantrag
Außerdem drehte sich bei Ducati Corse inzwischen alles um den für 12,5 Millionen Euro Jahresgage eingekauften Jorge Lorenzo, um den MotoGP-Weltmeister von 2010, 2012 und 2015.
Lorenzos Verpflichtung war eigentlich als Misstrauensantrag an die Adresse von Iannone und Dovizioso zu verstehen. Ducati wollte endlich einen aus den «Glorreichen Vier», einen Superstar, der die Vorzüge der Desmosedici perfekt zur Geltung bringen sollte. Um jeden Preis.
Inzwischen ist durchgesickert, dass Andrea Dovizioso im Frühjahr bei Ducati sogar eine Gagenkürzung für 2017 in Kauf nahm, als sich Claudio Domenicali, Gigi Dall’Igna, Paolo Ciabatti und Davide Tardozzi wochenlang nicht darüber klar wurden, ob sie für 2017 den schnelleren Iannone oder den beständigeren Dovizioso an die Seite von Lorenzo stellen sollten.
«Dovi» dürfte bei einer Gage von 1 bis 1,5 Millionen eingewilligt haben. Iannone gab sich damit nicht zufrieden, er wechselte lieber für 3 Mio im Jahr zu Suzuki.
Dovizioso liess sich durch das Gehältsgefälle gegenüber Lorenzo nicht zermürben. Er konnte ohne Druck in die Saison starten, das Scheinwerferlicht bei Ducati war auf Lorenzo gerichtet, der zeitweise stark schwankende Leistungen zeigte und bald klar im Schatten von Dovi stand.
Andrea Dovizioso – kein Typ für Glamour
Im Gegensatz zum schillernden Iannone ist der WM-Zweite Andrea Dovizioso eher bodenständig. Er lebt zurückgezogen, er meidet Privatjets, lebt sparsam, fährt lieber im Privatauto von Forli nach Brünn und Spielberg, hat eine siebenjährige Tochter, sich aber früh von der Mutter getrennt und ist seit Jahren mit Anthony Wests ehemaliger Freundin Alessandra Rossi liiert, ein ehemaliges Monster-Girl. Wobei Dovizioso selbst inzwischen wieder Red Bull-Athlet ist.
Während zwischen Dovis erstem und zweitem MotoGP-Triumph 2653 Tage verstrichen, gewann er die Rennen Nr. 3 und 4 innerhalb von acht Tagen – im Juni 2017 in Mugello und Barcelona.
Seither hat der Ducati-Held vier weitere Siege eingesammelt.
Der 31-jährige Italiener, 2004 Weltmeister in der 125-ccm-Klasse auf Honda, schreibt einen großen Anteil an diesen Erfolgen seinem neuen Mentaltrainer Amadeo Maffei und dem verlässlichen Umfeld zu.
Denn Körper und Geist, Instinkt und Rationalität spielen im Spitzensport eine wichtige Rolle – manchmal ist der Sieg eine Frage des Gleichgewichts. Vor allem für Andrea Dovizioso.
Wie eine Pflanze, die sich davor wehrt, sich dem Sonnenlicht zu beugen, wehrt sich Dovi gegen seine Gegner. In seinen ersten neun Jahren in der MotoGP hat er genau ein Rennen gewonnen.
Inzwischen siegte er seit Sepang 2016 nicht weniger als sieben Mal.
Die Metamorphose vom verlässlichen Platzfahrer zum Siegertypen und WM-Favoriten ist unübersehbar. Marc Márquez hat 2017 zweimal im Finish gegen Dovi verloren – in Spielberg und Motegi.
Die Wandlung im Winter 2015/2016
Alle Fans und Gegner fragen sich, was das neue Erfolgsgeheimnis des Ducati-Stars ist. «Dovis Entwicklung hat nicht während der letzten paar Monate stattgefunden, sondern im Winter zwischen 2015 und 2016», enthüllt Simone Battistella, Doviziosos Manager seit 14 Jahren.
Wir erinnern uns: Die Ducati Desmosedici offenbarte damals immer noch technische Mängel und Schwächen. Für 2015 und 2016 kam ausserdem Eindringling Andrea Iannone neu ins Team, quasi Dovis neuer natürlicher Feind.
Battistella: «Diese Situation hat eine Reaktion erfordert. Andrea ist nicht der Typ, der eine Szene macht. Darum hat er an den Details geschliffen.»
Die körperliche Fitness wurde in Zusammenarbeit mit den beiden Francescos verbessert: Chionne, dem Physiotherapeuten, und Cuzzolin, dem Sporttrainer.
Der MotoGP-WM-Titelanwärter von Ducati hat eine Leidenschaft fürs Motocross und Kartfahren. So hielt er sich während der vielen Jahre fit.
Aber in den letzten Jahren hat sich Dovi nicht nur um seinen Körper gekümmert, sondern auch um seinen Geist. Eugenio Lizama ist ein Sportpsychologe, der mit vielen Stars im Motorsport zusammengearbeitet hat. Auch Amadeo Maffei und Bruno Demichelis sind zwei Psychologen, die sich in den letzten Monaten immer in Andreas Nähe befanden.
Für einen Rennfahrer ist es wichtig, das Gehirn zu trainieren, um die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Aber es geht auch darum, sich mental auf Schwierigkeiten vorzubereiten, die einen Fahrer auf die Probe stellen. «Ich habe verstanden, dass man keine Ausreden für die eigenen Fehler suchen muss, sondern dass man sie aufspüren und beseitigen muss», hat Dovi wiederholt gesagt.
Dovizioso will nicht mehr die Komparsen-, sondern die Hauptrolle spielen. Sie liegt ihm inzwischen im Blut. Der Weg nach ganz oben hat begonnen, als er sich bewusst wurde, dass es in seiner motorsportlichen Karriere noch Spielraum für Wachstum gibt.
Dovi und die Ducati haben nicht nur den Anfangsbuchstaben des Namens gemeinsam, sondern auch die Kapazität zu träumen und die Gegner zum Zittern zu bringen.
Dovizioso: «Ich bin gefährlich, aber ich kann mich noch weiterentwickeln.»
Das ist die neue Herausforderung des roten Mannes.