Mike Leitner: «Stefan Bradl muss 2015 Zeichen setzen»
Mike Leitner (52) bekam als Crew-Chief von Dani Pedrosa bei Repsol-Honda in den letzten drei Jahren die Leistungen von Stefan Bradl bei LCR-Honda aus nächster Nähe mit, die LCR-Mannschaft war oft Boxennachbar, denn die Honda-Teams nisten sich in der Box meist nebeneinander ein. Wie beurteilt der Oberösterreicher die bisherigen MotoGP-Leistungen des 25-jährigen Bayern?
«Ich habe die ganzen Jahre für Honda gearbeitet, das muss man auch einmal sagen, ich habe einen HRC-Vertrag gehabt, keinen Pedrosa-Vertrag», stellt Leitner im Gespräch mit SPEEDWEEK.com fest. «Klar, du arbeitest für deinen Fahrer und setzt dich für ihn ein. Aber es war eine super Sache, dass Stefan Bradl MotoGP gefahren ist, noch dazu für Honda. Ich wäre auch happy, wenn Tom Lüthi dabei wäre, Domi Aegerter und einige andere.»
Bradl brachte in den ersten zwei Jahren recht ansehnliche Leistungen, 2014 war er dem Druck und den Ansprüchen von HRC nicht gewachsen, es wurden ständig Podestplätze erwartet. Das führte zu Stürzen und schliesslich zu einem Verlust des Selbstvertrauens.
Bradl erlebte im Vorjahr bei LCR-Honda seine schlechteste MotoGP-Saison – mit sechs Nullern in 18 Rennen und dem enttäuschenden neunten Gesamtrang.
«Wenn Stefan unter dem Erwartungsdruck von HRC gelitten hat, dann kann er sich eine Vorstellung davon machen, wie stabil Dani Pedrosa ist», gibt Mike Leitner zu bedenken. «Er erträgt diesen Druck seit neun Jahren.»
Leitner weiss: «Wenn du bei Honda die gewünschten Leistungen nicht bringst, wirst du abgehakt, dann geht die Reise in eine andere Richtung.»
«Ich glaube, Stefan ist ein Opfer der Open-Bikes geworden», fährt Leitner fort. «Die Factory-Fahrer aus den Kunden-Teams sind 2014 durch die Open-Bikes inklusive Ducati mit den weicheren Hinterreifen stark unter Druck geraten.»
Leitner: «Ich habe mich über die harten Reifen gewundert»
Bradl stellte im Nachhinein fest, dass er sich bei LCR-Honda zumindest im zweiten Jahr mehr Mitspracherecht bei technischen Entscheidungen aushandeln hätte sollen. Er hat inzwischen das Gefühl, er sei zum Beispiel bei der Auswahl der Reifen in den freien Trainings nicht ausreichend nach seiner Meinung gefragt worden.
«Das ist ein interessantes Thema», sagt Leitner. «Denn ich habe mir oft gedacht, warum Stefan den harten Reifen probiert hat. Das ist uns oft von Bridgestone-Reifentechniker Klaus Nöhles berichtet worden. Es hiess dann, dem Stefan taugen die harten Reifen mehr als die andern. Wir haben uns oft darüber gewundert. Und wenn wir gehört haben, dass Stefan mit dem harten Reifen nicht zurechtkommt, haben wir gewusst, den brauchen wir gar nicht probieren. Wenn Stefan den harten Hinterreifen benützt hat, war er ja zwei Stufen härter als die Open-Class-Fahrer. Stefan hat ja teilweise ein Training mit dem harten Reifen begonnen.»
Das passierte manchmal bei LCR, weil das Team mit den weichen Reifen haushalten wollte. Leitner gibt zu bedenken: «Wenn du aber dadurch im ersten freien Training weit hinten bist, bist du vor dem FP2 vom Kopf her schon ein bisschen angeschlagen.»
Leitner will sich über die Performance von Stefan Bradl kein Urteil anmassen. «Ich kann nichts Genaues dazu sagen, woran es lag, dass es bei ihm nicht wunschgemäss geklappt hat. Ich kann nicht sagen, es liegt am Stefan; ich kann auch nicht behaupten, es sei das Set-up gewesen. Auf jeden Fall hat Stefan jetzt bei Forward-Yamaha die Chance, sich zu beweisen. Wenn er jetzt ein Jahr lang in der Open Class fährt, muss er auf jeden Fall Zeichen setzen. Denn er hat jetzt in gewissen Bereichen Vorteile, zum Beispiel in den Trainings und in den Qualifyings, dank der weicheren Hinterreifen.»
«Es kann auch sein, dass Stefans Fahrstil besser zur Yamaha passt als zur Honda», meint Mike Leitner. «Der Stefan fährt unheimlich rund. Er muss immer viel spüren, das merkst du ihm an. Während die anderen dieses Feeling vielleicht nicht aufbauen und ein bisschen unsensibler sind. Er will spüren, was das Motorrad tut. Er hat Talent, das ist unbestritten, denn ohne Talent wirst du erstens nicht Moto2-Weltmeister, zweitens fährst du ohne Talent nicht unter den ersten fünf in der MotoGP herum. Das ist ganz klar. Ob Stefan jetzt das Talent hat, gegen Marc Márquez zu bestehen auf diesem hohen Level, das ist eine andere Frage. Er gehört vom Talent her auf jeden Fall in die MotoGP-Klasse. Ganz klar.»
Marc Márquez war 2010 Weltmeister (125 ccm), dann 2012 (Moto2) sowie 2013 und 2014 (MotoGP). Nur Stefan Bradl hat ihn in den letzten fünf Jahren an einem Titelgewinn gehindert – 2011 in der Moto2.
Leitner: «Darauf muss Stefan aufbauen. Für mich ist es aus seiner Sicht eine gute Sache, dass er jetzt eine Open-Yamaha fährt. Speziell bei Yamaha und Ducati sind die Open-Bikes sehr konkurrenzfähige Geräte. Honda hat hingegen für 2014 einen Production-Racer gebaut, der vom Level her ein bisschen niedriger war. Ich verstehe, dass Stefan eine Open-Yamaha ausgewählt hat.»
Leitner traut Bradl den Gesamtsieg in der Open-Class 2015 zu. «Bei Honda muss man auf Jack Miller achten. Er lässt sich schwer einschätzen», sagt Leitner.
Versteht der ehemalige 125-ccm-GP-Pilot den Weitsprung von Miller von der Moto3 in die MotoGP? «Es kommt immer auf die Zielsetzung drauf an. Wenn Honda sagt, wir holen den Miller und es ist am Anfang mal vollkommen egal, welche Plätze er rausfährt, dann kann man es tun. Aber ich bin gespannt, wie lange er diesen Kredit hat. Ob er nach einem oder zwei Jahren dann aufgebraucht ist oder ob er für eine Überraschung sorgen kann.»
Es lässt sich nicht verleugnen, dass neben Bradl bei Honda 2014 auch Pedrosa und Bautista klar enttäuscht haben. Hat HRC die Entwicklung zu stark auf Marc Márquez ausgerichtet?
Leitners Antwort: «Nein, das würde ich nicht sagen. Auch wenn Marc einen anderen Fahrstil hat, aber diese Anpassungen werden überwiegend über das Set-up vorgenommen. Du kannst diese Motorräder in so vielen verschiedenen Abstimmungen fahren... Das glaube ich nicht.»