Sebastian Vettel: Crash wegen Instinkts, Titel weg?
Vettel zog instinktiv nach links, um sich gegen den aufkommenden Verstappen zu verteidigen
Rennfahrer sind Instinktmenschen. Ganz besonders Siegfahrer wie Sebastian Vettel. Die FIA hat am vergangenen Sonntag in Singapur befunden – für den Start-Crash kann keinem Piloten eine überwiegende Schuld zugeschoben werden, daher gibt es auch keine Strafe.
Viele Experten sehen das anders. Die beiden früheren Williams-Weltmeister Jacques Villeneuve und Damon Hill sind der Überzeugung, dass Sebastian Vettel in Singapur ein folgenschweres Eigentor geschossen hat.
Der Kanadier Villeneuve: «Wer um den Titel fährt, kann sich gewisse Manöver auf der Bahn einfach nicht erlauben. Warum positioniert Vettel seinen Wagen auf diese Weise? Das ist komplett seine eigene Schuld.»
Der Engländer Hill: «Vettel hat dieses Chaos ausgelöst, und das wird ihm zu denken geben müssen.»
Die Stimmung im Fahrerlager in der Nacht von Singapur: Bedauern über einen Grand Prix, der vielleicht eine entscheidende Wendung in der WM 2017 gebracht hat. Aber wenig Mitleid für Ferrari, nicht zuletzt wegen eines brunnenvergiftenden Tweets, den die Scuderia selber abgesetzt hat: «VER riss #Kimi7 aus dem Rennen und warf sich dann auf #Seb5».
Ex-GP-Star Mark Webber konnte nur den Kopf schütteln: «Vermutlich wurde der Spruch von einem abgesetzt, der noch nie selber in einem Go-Kart sass.»
Schnell wurde spekuliert: Der Tweet sei in der Hitze des Gefechts abgesetzt worden, ohne Zustimmung der Teamführung. Aber Ferrari doppelte nach: «Was wir getweetet haben, ist eine faktentreue Darstellung der Ereignisse. Da gibt es nichts zu
spekulieren.»
Red Bull Racing-Teamchef Christian Horner findet: «Wer hier versucht, unserem Max Verstappen eine Schuld zu geben, der sollte sich dringend zur Augenuntersuchung begeben.»
Nein, der überwiegende Eindruck bleibt: Vettel zog instinktiv nach links, um sich gegen den aufkommenden Verstappen zu verteidigen. Was Sebastian nicht wissen konnte, dass noch weiter links der grandios gestartete Räikkönen dahergeschossen kam. Was sollte Verstappen tun? Sich in Luft auflösen?
Die Tifosi trauten ihren Augen nicht: Beide Ferrari draussen. Kein Ferrari im Ziel, das war seit 2010 nur einmal passiert – in Mexiko 2015.
Für Vettel ist es das siebte Mal, dass er nicht über Runde 1 hinauskommt, mit Ferrari war ihm das schon 2016 in Malaysia und Russland passiert.
Sebastian Vettel liegt in der WM nun 28 Punkte hinter Lewis Hamilton. Wenn wir uns betrachten, wie ausgeglichen diese zwei Ausnahmekönner bisher gekämpft haben, dann ist das eine schwere Last.
Nach dem Monaco-GP genoss der Deutsche einen Vorsprung von 25 Punkten. In Monza meinte Hamilton nach seinem Sieg im Ferrari-Land: «Es gab einen Zeitpunkt früher in der Saison, da lag ich weit zurück. Nun will ich versuchen, selber einen entsprechenden Vorsprung zu erarbeiten. Vettel soll nur ein wenig spüren, wie sich das anfühlt.»
An diesem Punkt sind wir jetzt, und Sebastian Vettel hat noch sechs Rennen Zeit, das wieder zu drehen.
Natürlich ist der Rückstand beträchtlich, aber das ist Formel 1, da kann alles passieren. Ein Ausfall von Hamilton – der als einziger Pilot 2017 immer in die Top-Ten gefahren ist – bei gleichzeitigem Sieg von Vettel, und alles steht wieder bei null.
Sebastian Vettel erhält 30 Millionen Dollar im Jahr, eben weil ihn sein Renninstinkt zum vierfachen Weltmeister gemacht hat.
Rückblickend ist es leicht, von einem Fehler Vettels zu sprechen.
Formel-1-Asse müssen in Sekundenbruchteilen reagieren. Nicht immer ist die Reaktion die Richtige. Auch nicht bei einem Ausnahmekönner wie Sebastian Vettel.
«Wir müssen nach vorne schauen», hat Vettel vor seiner Abreise aus Singapur festgehalten. Seine Aufgabe wird nicht leichter: Lewis Hamilton hat vier der letzten fünf Rennen gewonnen, er hat alle Grands Prix seit der Sommerpause für sich entschieden. Und die grosse Angststrecke von Mercedes hat mit einem Sieg für den Engländer geendet. Ausgerechnet auf jener Strecke, auf welcher Vettel die WM-Führung wieder an sich reissen wollte, muss er die schmerzlichste Niederlage verdauen.
Vielleicht bringt es mein langjähriger Kollege Pino Allievi, Journalistenlegende der «Gazzetta dello Sport» am besten auf den Punkt: «Einer wie Lauda hätte nie so die Beherrschung verloren. Er hätte für Maranello in diesem Rennen wertvolle Punkte eingefahren. WM-Titel gewinnt man mit dem Kopf, nicht mit dem rechten Fuss.»