Gerhard Berger: «Schreibt Vettel im Ferrari nicht ab»
Vier Formel-1-WM-Läufe, vier Doppelsiege von Mercedes-Benz – Valtteri Bottas und Lewis Hamilton prägen diesen ersten Teil der Weltmeisterschaft. Aber der an einen Durchmarsch von Mercedes zum sechsten Titel in Folge glaubt Gerhard Berger nicht, wie der 59-Jährige im Interview mit SPEEDWEEK.com erklärt.
Gerhard, ist die WM nach vier Mercedes-Doppelsiegen gelaufen?
Nein, das glaube ich nicht. Ferrari hat sein Potenzial noch nicht ausgespielt, und auch von Red Bull Racing ist Einiges zu erwarten.
Woran fehlt es bei Ferrari?
Der Führungswechsel zu Mattia Binotto war korrekt und notwendig. Binotto ist der richtige Mann, umsichtig, intelligent, eine Führungspersönlichkeit mit dem nötigen technischen Wissen. Binotto brachte zu Ferrari Sympathien zurück, die zuvor verlorengegangen waren. Aber Binotto ist in der Führung für alles zuständig, er hat keine Entlastung. Bei Mercedes steht Toto Wolff an der Spitze, kümmerte sich bisher natürlich Niki Lauda um die Politik und James Allison sowie Andy Cowell um die Technik. Bei Red Bull Racing ist es mit Christian Horner, Helmut Marko und Adrian Newey ähnlich. Binotto braucht mehr Unterstützung, er ist der Schlüssel zum Erfolg.
Wird sich der noch einstellen?
Ja, weil das Auto WM-Potenzial hat, der Antrieb ist aktuell der stärkste. Aber Ferrari muss in einen Rhythmus kommen.
Und die internen Probleme durch die Rivalität Vettel–Leclerc?
Sebastian ist in einer schwierigen Position. Als vierfacher Weltmeister braucht er eigentlich nichts mehr zu beweisen. Aber dann kommt ein Junger, der noch viel beweisen will. Und der kann auch einen Champion in Fehler treiben. Sebastian ist immer noch ein ganz starker Pilot. Für ihn spricht auch die Erfahrung, das ist nicht zu unterschätzen.
War eine Teamorder schon in den ersten Rennen sinnvoll?
In einer so frühen Phase der WM nicht. Im letzten Drittel würde ich sie verstehen.
Hat Mick Schumacher deiner Ansicht nach schon Formel-1-Potenzial?
Er hat alles, was er dazu braucht. Und er hat viel Unterstützung. Mick steigerte sich in seiner Karriere kontinuierlich. Ich würde den Namen Schumacher sehr gern wieder in der Formel 1 sehen. Er ist der gute Teil in einer traurigen Story (Michael Schumachers Skiunfall, die Redaktion).
Eine Fahrer-Rivalität bei Mercedes erwartest du nicht?
Ich muss sagen, dass ich von Valtteri Bottas tief beeindruckt bin. Er ist ein cooler, ganz netter Typ, ruhig, aber ungemein schnell. Ich finde auch, dass sich Lewis auf ein Niveau entwickelt hat, das jenem von Ayrton Senna entspricht. Denn beide konnten oder können Rennen unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gewinnen. Hamiltons Vorteil ist mittlerweile auch seine Geduld: Er will nicht in der ersten Kurve gewinnen, er kann warten – und dann gewinnen.
Wer wird also Weltmeister 2019?
Ich würde mein Geld wirklich auf Ferrari setzen.
Macht Mercedes mit den WM-Titeln und -siegen die Formel 1 kaputt?
Nein. Nicht Mercedes macht die WM kaputt, in dem das Team einen brillanten Job erledigt, sondern das Regulativ, das kein Aufholen der anderen ermöglicht.
Was kann Red Bull Racing-Honda erreichen?
Man darf das Team nicht ausser Acht lassen, denn Max Verstappen hat eine Konstanz entwickelt und beeindruckt immer mehr. Ich erwarte noch keinen WM-Titel, aber Erfolge.
Wie gefällt dir die Formel 1 generell unter dem neuen Vermarkter?
Das neue Management brachte einige gute Neuerungen, aber irgendwie kommt die Seele der Formel 1 abhanden. Was mir zuletzt in Bahrain positiv auffiel: Es gab Shuttle-Busse für die Zuschauer zu verschiedenen Streckenpunkten mit freier Platzwahl dort. Das sollte es überall geben. Was mich stört, ist dieses virtuelle Safety Car. Mit dem echten wird das Feld zusammengezogen und neue Spannung kreiert, wenn auch zum Nachteil des Führenden. Aber das Dahinschleichen mit gleichem Abstand beim VSC ist für Fernsehzuschauer ein Langweiler.
Hand aufs Herz – warum hast du vor über zwei Jahren das Angebot angenommen, DTM-Boss zu werden?
Ich fragte mich: Will ich ganz ohne Motorsport leben? Ich fand: nein. Ich fragte mich: Will ich 21 Wochenenden im Jahr mit der Formel 1 unterwegs sein? Ich fand: nein. Die DTM ist perfekt – toller Rennsport, und zu fast allen Rennen kann ich von zuhause mit dem Auto fahren. Und dieser Job war eine ganz neue Herausforderung für mich.