Martin Brundle: Ferrari-Stallorder und Vettel-Magie
Wieviel Anteil am Sieg von Sebastian Vettel hatte kühle Berechnung am Kommandostand von Ferrari? War der Platzwechsel an der Spitze wirklich nur ein Resultat von Vettels überlegendem Speed und ein wenig Glück? Oder steckt eben doch mehr dahinter? Auch Martin Brundle (57), Formel-1-Experte unserer Kollegen der britischen Sky, hat sich darüber in seiner vielbeachteten Kolumne Gedanken gemacht.
«Viele Teams haben im Laufe der Jahrzehnte Stallorder angewandt, kein Rennstall vielleicht öfter als Ferrari», beginnt Brundle, Sportwagen-Weltmeister 1988. «Der natürliche Speed von Michael Schumacher und seine Gabe, ständig Leistung auf höchstem Niveau zu zeigen, haben seine ganzen Stallgefährten in Nebenrollen verdrängt – Eddie Irvine, Felipe Massa, Rubens Barrichello. Als Schumi wegen eines Beinbruchs 1999 zuschaute, musste Notnagel Mika Salo in Hockenheim seine vielleicht einzige Möglichkeit auf einen GP-Sieg hergeben, um die Titelchancen von Irvine zu wahren.»
«Unvergessen der erzwungene Platzwechsel 2002 in Österreich zwischen Barrichello und Schumacher, allen noch in schmerzlicher Erinnerung. 2007 erhielt Kimi Räikkönen Rückendeckung von Felipe Massa, was letztlich zum Titel reichte. 2008 wurde die Rollenverteilung umgedreht, doch dieses Mal reichte es für Felipe nicht.»
«Mein erstes Rennen als Manager eines Formel-1-Piloten war ausgerechnet Melbourne 1998 – ein Missverständnis zwischen der McLaren-Box und Mika Häkkinen führte dazu, dass mein Schützling David Coulthard nun in Führung lag. Das Team fand: unser Fehler. Und ordnete an, dass David seinen Stallgefährten ziehen lässt. Coulthard erhielt eine finanzielle Vergütung, als hätte er das Rennen gewonnen, aber er hat sich psychisch eine ganze Weile nicht von dem Boxenbefehl erholt. Zumal er schon beim WM-Finale zuvor, 1997 in Jerez, für Häkkinen Platz machen musste. Ich hatte mit McLaren-Chef Ron Dennis einen fürchterlichen Streit, aber es nützte alles nichts.»
«Unvergessen die Multi-21-Affäre bei Red Bull Racing, als sich Sebastian Vettel nicht an die Team-Anordnung hielt und sich in Sepang 2013 an Leader Mark Webber vorbeipresste. Aber wir müssen gar nicht mehr weiter in die Vergangenheit: Natürlich benutzte Mercedes Valtteri Bottas in Spanien dazu, Vettel ein wenig das Leben schwer zu machen. Hamilton gewann.»
«Es ist für mich logisch, dass Toto Wolff von Mercedes und Christian Horner von Red Bull Racing nach dem Monaco-GP über Ferrari kein grosses Gedöns gemacht haben. Denn die beiden wissen genau – früher oder später werden sie an ihren Kommandoständen in einer ähnlichen Position sein.»
«Wir sprechen hier nun mal von einer paradoxen Situation: Zwei Einzelkämpfer als Angestellte eines Teams. Ich hätte in Monaco sicher nicht zugeschaut, wie Räikkönen vor Vettel ins Ziel fährt. Wenn du die Möglichkeit hast, deinen Vorsprung zu maximieren, mit Lewis Hamilton weiter hinten im Feld, dann machst du das einfach.»
«Natürlich verstehe ich den Einwand: „Wozu so früh in der Saison? Wir haben doch erst Lauf 6.“ Aber für mich spielt das keine Rolle. Ob du die entscheidenden Punkte nun im sechsten Rennen holst oder zum Schluss der Saison, die Punkte sind gleich wichtig.»
«Die Kernfrage bleibt für mich: Hat Ferrari das Ergebnis in Monte Carlo wirklich beeinflusst? Gegenfrage: Wer hätte garantieren können, dass Sebastian Vettel – wie auch Daniel Ricciardo – auf verbrauchten Ultraweichreifen solch tolle Zeiten fahren würden, als ihre Gegner Verstappen, Bottas und Räikkönen frische Walzen holten? Wer konnte garantieren, dass sie freie Fahrt haben?»
«Schon vor dem Rennen war mir klar: Länger auf der Bahn zu bleiben, ist dieses Mal eher von Vorteil – im Wissen, dass die Reifen in Monte Carlo kaum abbauen, dass der Rundenzeitenunterschied zwischen ultraweich und superweich recht gross ist und dass es knifflig ist, all diese Reifen auf Temperatur zu bringen.»
«Wenn sich Ferrari gegen den früheren Stopp von Verstappen wappnen musste, dann hätten wir erwartet: Der zweitplatzierte Pilot wird als Erster hereingeholt, das wäre Vettel. Aber Räikkönens Tempo an der Spitze hatte nachgelassen. Für mich ist klar: Hätte Räikkönen das Grundtempo von Vettel mitgehen können, dann wäre er nicht so lange im Verkehr steckengeblieben. Und er wäre später Vettel wie ein Schatten gefolgt, um ihn vielleicht in einen Fehler zu treiben. Aber er hatte diesen Speed nun mal nicht, obgleich ich den Eindruck verstehe, dass es ein wenig wirkte, als wüsste er – ich kann hier ohnehin nicht gewinnen.»
«Unterm Strich hat in Monaco die beste Kombination aus Fahrer und Auto gewonnen. Ob dahinter eine Ferrari-Stallorder steckte, werden wir wohl nie herausfinden.»
«Für mich bleibt die Tatsache: Vettel hat als WM-Leader mit einem stattlichen Vorsprung von 25 Punkten nun mehr Luft als sein Gegner in Silber. Mercedes und Hamilton stehen unter Druck.»