Formel 1: Abschied in der Unterhose

Mythos Ayrton Senna: Wieso er die Menschen fasziniert

Von Mathias Brunner
​Am 1. Mai 1994 haben wir Ayrton Senna verloren. Die Faszination für den Brasilianer hält bis heute an. Aus dem Menschen ist ein Mythos geworden. Wieso der Brasilianer unerreicht und unvergessen bleibt.

Ich muss immer ein wenig schmunzeln darüber, wie verschwenderisch wir heute mit Superlativen umgehen. Heute wird zum Star erhoben, wer in einer zweitklassigen Seifenoper einen fehlerfreien Satz krächzen kann oder wer bei «Deutschland sucht den Superstar» (aha!) in die Motto-Shows vorstösst. Wer dann gewinnt, bleibt über die Grenzen des deutschsprachigen Europas hinaus so gut wie unbekannt, RTL hin oder her. Pardon, aber Superstar definiere ich ein wenig anders.

Superstar ist für mich ein Mensch, der weltweit sofort erkannt wird; ein Mensch, der wirklich etwas geleistet hat; ein Mensch mit Ausstrahlung; ein Mensch wie Ayrton Senna. Der Brasilianer verströmte, was die Leute auch über Juan Manuel Fangio sagten – eine ganz bestimmte Aura. Wenn Fangio oder Senna den Raum betraten, drehten sich die Leute automatisch um. Wenn sie, übrigens mit der gleichen leisen Sprache, redeten, dann hörten die Menschen zu.

Ich weiss noch, wie Senna in einer FIA-Pressekonferenz minutenlang reden konnte. Man hätte eine Stecknadel zu Boden krachen gehört. Alle gingen an den Lippen des Rennfahrers. Auch deshalb, weil Senna im Gegensatz zu den heutigen Warmluftverbreitern auch wirklich etwas zu sagen hatte.

Fast auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Unfall bin ich auf dem Gelände des «Baku City Circuit» ein wenig spazieren gegangen. Wenn wir auf SPEEDWEEK.com den ganzen Tag versuchen, einen steten Strom interessanter Geschichten zu schreiben, dann muss zwischendurch auch mal der Kopf durchgelüftet werden.

Ich liess mich an Fanartikel-Ständen vorbeitreiben und blieb unweigerlich vor einem bestimmten stehen: Ayrton Senna. Noch heute sitzen auf den Tribünen der Formel-1-Rennen Fans mit einem Senna-Shirt oder Nacional-Käppi. Fanartikel von Senna laufen besser als viele Artikel heutiger Rennställe.

Noch heute bezeichnen ihn Weltmeister wie Lewis Hamilton und Fernando Alonso als Idol. Ich für meinen Teil bin einfach stolz, dass ich ihn bei seiner Arbeit beobachten durfte. Seine Quali-Runden waren unfassbar – wenn er zum Schluss des Trainings auf die Bahn ging, dann haben alle gewusst: Jetzt wird gleich etwas Magisches geschehen.

Vor einigen Jahren besuchte ich eine Ausstellung. Sie hiess «Entscheidungen». Es ging darum, wie jeder von uns jeden Tag hunderte von Entscheidungen trifft, und wie fast jede davon dem Leben eine andere Richtung gibt. Manchmal zum Besseren, manchmal nicht, manche haben grosse Auswirkungen, andere nur ganz geringfügige. Das ist ein interessanter philosophischer Ansatz, denken Sie mal in Ruhe darüber nach.

Dabei kommt mir ein Foto in den Sinn, das rund zwanzig Jahre nach dem Tod von Ayrton durchs Internet irrlichtete. Das Bild zeigte, wie sich Ayrton Senna nach dem Imola-Unfall aus dem Williams-Wrack stemmt. Leider haben wir dieses Bild nie erleben dürfen. Mit einem Auto von 2019 hätte er gute Chancen gehabt, den Unfall unbeschadet zu überstehen. Er hätte sich höchstens darüber geärgert, dass dieser verflixte Schumacher schon wieder gewonnen hat.

Wie hätte sich wohl alles entwickelt, wenn Senna Imola 1994 überlebt hätte? Ich stelle mir gerne vor, wie der Brasilianer dem damaligen Williams Manieren beigebracht hätte und zum vierten Mal Weltmeister geworden wäre, nach 1988, 1990 und 1991. Es war eine grosse Phase von Williams, 1996 und 1997 holten die Engländer mit Damon Hill und Jacques Villeneuve weitere Titel. Es ist nicht unmöglich, dass Senna von 1994 bis 1997 ein glatter Titeldurchmarsch gelungen wäre.

Dann hätte Senna aufgehört, oder er wäre er zu Ferrari gegangen. Niemand kann sagen, was er dort noch erreicht hätte. Der frühere Lancia- und Ferrari-Rennchef Cesare Fiorio beteuerte: «Ich hatte mit Ayrton alles klargemacht – er hätte seine Karriere bei Ferrari beendet. Und zwar als Weltmeister.»

Ich bin überzeugt, Ayrton Senna hätte seine Vision eines besseren Brasilien umgesetzt mit all seinen Kräften und mit der gleichen Konsequenz wie hinterm Rennlenkrad. Wenn ich mir anschaue, welch politisches Chaos in den letzten Jahren in Brasilien herrscht, drängt sich die Frage auf: Hätte sich Senna vielleicht in der Politik engagiert? So wie das der Argentinier Carlos Reutemann nach Abschluss seiner Rennkarriere tat? Wäre Senna heute vielleicht sogar brasilianischer Staatschef?

Oder Senna hätte beim Autoverband FIA aufgeräumt. Ihm war zutiefst zuwider, wie der damalige Verbandspräsident Jean-Marie Balestre mit ihm umsprang. Durchaus denkbar, dass sich Senna bei der FIA eingebracht hätte. Ungerechtigkeit machte ihn rasend.

So oder so bin ich aber davon überzeugt, er würde viele der heutigen Entscheidungen in der Formel 1 so unverblümt kommentieren wie er es damals tat.

Lewis Hamilton: Senna als Inspiration

Was viele Fans vergessen haben: Einst hat der junge Lewis Hamilton einen knallgelben Helm gewählt, weil er Ayrton Senna nacheifern wollte.

Der Helm von Ayrton Senna hatte Signalwirkung: Wann immer seine Gegner das Knallgelb im Rückspiegel erkannten, zuckten sie zur Seite. Sie wussten – Senna würde sie so oder so packen, wozu also Gegenwehr?

Wir haben Senna 1994 in Imola verloren, aber vielleicht haben wir dank Senna einen jungen Engländer gewonnen, denn Lewis sagt über den Brasilianer: «Ayrton war jener Fahrer, der meine Aufmerksamkeit erregte. Dank ihm kam ich zum Sport. Es fühlt sich noch immer unwirklich an, dass ich, der Knirps mit einem Speck-Sandwich auf einem crèmefarbenen Sofa, es selber zum Weltmeister geschafft habe. Wer hätte das damals ahnen können? Und es erfüllt mich noch heute mit Demut, dass ich im selben Atemzug wie Senna genannt werde.»

In Sennas Heimat wird Hamilton immer besonders warm empfangen, die südamerikanischen Fans spüren, dass Lewis etwas Besonderes ist. Hamilton weiter: «Die Brasilianer sind sehr leidenschaftlich, haben so viel Spass und gehen aus sich heraus. Es ist ein lebhaftes Land voller Farben und bedeutet mir sehr viel. Dies war Ayrtons Heimrennen. Als Kind habe ich immer davon geträumt, in São Paulo zu fahren. Wenn ich dort bin, fühle ich seine Präsenz.»

An Siegen und Pole-Positions hat Hamilton sein Idol längst weit überflügelt, aber der Brite sagt sofort: «Das sagt nichts aus. Niemand sollte vergessen, dass Ayrton noch sehr viele Rennen mehr gewonnen hätte, wäre nicht das Schicksal dazwischengekommen.»

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