Fazit Barcelona-Test: Beste Formel 1 aller Zeiten?
Die Formel 1 hat sich im Laufe der Jahre von langjährigen Grand-Prix-Anhängern entfremdet.
Das Fahrerlager? Ein Hochsicherheitstrakt, mit ausgesperrten Fans, die wie Tiere im Zoo an Gittern hängen.
Die sozialen Netzwerke? Zug verpasst. Das ist der Hauptgrund, wieso die Formel 1 unter den Fans ein gravierendes Nachwuchsproblem hat.
Die Zuschauerzahlen vor Ort? Sinkend, weil Formel-1-Promoter Bernie Ecclestone den Rennveranstaltern hohe Antrittsgebühren abforderte, so dass die Kosten auf die Ticketpreise umgewälzt werden mussten.
Die TV-Einschaltquoten? Wackelig. Die Formel 1 wird zu wenig als das verkauft, was sie ist – das grösste Sportspektakel der Welt.
Es entstanden in der letzten Dekade so viele Baustellen, dass die Wahl schwerfällt, wo zunächst repariert werden muss.
Das Reglement ist zu einem gewaltigen Gordischen Knoten geworden, so dass Teams und Regelhüter immer wieder in Streit über diesen Regeldschungel verfallen. Es geht um Details, welche nicht mal Techniker erklären können, wie sollen sie dann von den Fans verstanden werden? Die würden am liebsten ein Schwert zücken und den ganzen, verdammten Knoten mit einem Streich zerschlagen.
Das beste Beispiel ist der jämmerliche Streit um die vernetzten Aufhängungen: Es ist schlicht unmöglich, Mechanik und Aerodynamik zu trennen, wie das im Reglement verzweifelt versucht wird. Jede Bewegung des Fahrzeugs hat logischerweise Auswirkungen auf die Aerodynamik des Autos. Wo soll da die Grenze verlaufen? Die Teams geben Millionen Euro für Detailverbesserungen aus, welche der Fan nicht sieht, die er nicht versteht und welche den Sport nicht besser machen. Nur teurer und komplizierter.
Die Rennställe untereinander bleiben futterneidisch und stutenbissig. Es wurde viel zu selten zum Wohle des Sports entschieden, jedem bleibt sein eigenes Hemd am nächsten.
Der Schritt in die Turbo-Ära vergraulte unzählige Rennsportfreunde.
Vor Jahren, als in der Formel 1 noch frei getestet werden durfte, besuchte ich mit einigen früheren Gymnasiumkollegen den Test in Monza. Ich werde nie ihre Gesichter vergessen, als sie entlang der Bahn standen und die Autos mit auf 20.000 Touren drehenden Motoren vorüberkreischten. Einhellige Meinung: «Wir hätten nie gedacht, wie unfassbar laut diese Motoren sind.»
Die Turbos haben das technikbedingt abgewürgt. Der Klang ist vielschichtig, aber schlicht zu leise. Noch immer. Seit der Einführung 2014 und dem enormen Unmut der Fans ist uns versprochen worden, den Sound hochzufahren. Wir warten noch immer auf ein überzeugendes Ergebnis.
Als die Rennställe stolz Videos vom Starten der Rennmotoren posteten, ätzten Fans zurück: «Da klingt mein Staugsauber zuhause ja besser.»
Wie schnell ist die neue Formel 1?
Im Grand-Prix-Sport ist viel in Bewegung. Die neuen Grossaktionäre von Liberty Media bringen frischen Wind, die Formel 1 soll wieder näher zu den Fans rücken. Zudem ist uns für 2017 die schnellste Formel 1 aller Zeiten versprochen worden, mit attraktiven Rennwagen samt Rückkehr herrlich breiter Räder.
Formel-1-Champion Nico Rosberg hat bei seinem Besuch in Barcelona geschwärmt: «Ich bin elektrisiert durch diesen Neuanfang der Formel 1, von diesen Autos geht viel positive Energie aus. Die Fahrer sind aufgekratzt, die Fans erwartungsvoll, die Renner sehen wirklich biestig aus. Genau wie ein GP-Renner aussehen sollte. Ich spüre von den Piloten eine wahnsinnige Begeisterung. Sie finden die neuen Rennwagen fabelhaft.»
«Die Piloten werden mit diesen Rennwagen wieder als Gladiatoren verstanden. Diese neuen Autos werden sie bis an die körperlichen Grenzen treiben. Ich sehe ja jetzt schon entlang der Strecke, wie die Köpfe der Fahrer zur Seite hängen, wie extrem der Nacken belastet ist. Ich kann mir sogar vorstellen, dass es Fahrer geben wird, die Rennen verlieren, einfach weil sie zum Schluss eines Grand Prix platt sind.»
Wir teilen die Eindrücke von Nico. Die neuen Renner sind wirklich atemraubend schnell, viele davon bildschön. Die Proportionen rücken langsam wieder in erträgliche Bereiche, zum Glück haben wir wieder fette Hinterreifen, die nach hinten geneigten Flügel vermitteln Dynamik. Dass die Autos etwas lang geraten sind, daran werden wir uns nach kurzer Zeit gewöhnt haben.
Beklagenswert hingegen, dass wir die haiflossenartigen Auswüchse der Motorabdeckung zurück haben. Die Mehrheit der Fans findet sie gruselig. Von Zusatzflügeln ganz zu schweigen, die wie Kleiderbügel aussehen. Oder von den doofen Knubbelnasen. Solche Regellücken gehören geschlossen. Wie das schöner gestaltet werden kann, beweisen uns Mercedes und Toro Rosso.
Die neue Formel ist wirklich sauschnell. 2017 werden reihenweise Streckenrekord fallen. Die meisten Fahrer haben sichtlich Freude am Fahren, das ist ein wichtiges Signal für die Formel 1.
Superstar Fernando Alonso: «Jahrelang waren wir keine Racer, sondern Verwalter. Ständig mussten wir mit irgendetwas haushalten. Mit der Energie, mit dem Kraftstoff, mit den Reifen. Das ist wider die Natur eines Racers.»
Nun dürfen sie wieder auf der Rasierklinge reiten, statt ihr Auto wie ein rohes Ei um den Kurs zu tragen, wie Lewis Hamilton bestätigt: «Auf der Geraden bist du etwas langsamer unterwegs. Es ist also nicht der Speed, den du spürst, sondern den Abtrieb. Du kannst später in die Eisen steigen und schneller wieder aufs Gas treten. Das ist schon beachtlich. In Kurve 9 habe ich unter meinem Helm gejubelt – man fühlt sich wie ein Kind auf der Achterbahn.»
Pirelli hilft mit Reifenmischungen, welche über einen längeren Zeitraum ein härtere Gangart erlauben.
Aber Speed alleine ist kein Allheilmittel. Welcher Fan kann bittschön auf der Tribüne von freiem Auto einschätzen, ob ein Auto pro Runde vier Sekunden schneller ist? Sound erzeugt die Illusion von Speed. Nehmen wir zwei Rennwagen, die exakt gleich schnell sind. Einer davon ist aber markant lauter. Wetten, dass die meisten Fans den als schneller empfinden?
Unter den Piloten gehen die Meinungen auseinander, wie diese neuen Rennwagen den Sport beeinflussen werden. Lewis Hamilton vertritt die Meinung: «Mehr Abtrieb bedeutet, dass es für den Verfolger noch schwieriger wird, sich in eine Angriffsposition zu manövrieren. Zumal die Bremszonen noch kürzer geworden sind. Ich befürchte, die Rennen werden spannungsärmer.»
Pirelli-Projektleiter Mario Isola bestätigt, dass wir tendenziell weniger Boxenstopps erleben werden, weniger Platzwechsel, die durch abbauende Reifen zustandekommen. Will ein Pilot vorbei, kann er künftig nicht auf ein taktisches Überholmanöver durch einen geschickt platzierten Stopp vertrauen.
Red Bull Racing-Pilot Max Verstappen will davon nichts wissen, dass das Überholen mit diesen Autos schwieriger wird: «Ich überholte hier bei den Tests reichlich, ich sehe wirklich nicht, wo das Problem ist.»
Die Wahrheit ist: Wir wissen noch nicht, wie hochwertig der Sport werden wird. Dazu müssen wir einige Rennen abwarten. Melbourne alleine wird noch kein Gradmesser sein.
Die Teams: Wer schläft ruhig? Wer hat Sorgen?
Wie steht es um die Konkurrenzfähigkeit der Rennställe? Der Engländer Ross Brawn ist von Formel-1-Grossaktionär Liberty Media für die Entwicklung von Technik und Sport angestellt worden. Der frühere Weltmeistermacher von Michael Schumacher bei Benetton und Ferrari dämpft übermässige Erwartungen all jener, die glauben – die neue Formel 1 beende die Vormachtstellung von Mercedes.
Brawn sagt: «Wir geben uns mit solchen Änderungen im Reglement immer eine Blösse. Klar drücken auch wir die Daumen, dass die Rechnung der neuen Formel 1 aufgeht und wir ein ausgeglicheneres Feld haben werden. Aber ich glaube, der Schritt in diese neue Formel 1 ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie von Anfang an nach den falschen Prinzipien vorgegangen worden ist. Wenn die Vorgabe auch darin bestand, die Dominanz von Mercedes zu brechen, dann lässt sich leicht argumentieren, dass nun genau das Gegenteil passiert. Ein Top-Team mit reichen Ressourcen wird sich mit Feuereifer auf ein neues Reglement stürzen. Es war naiv anzunehmen, der Wechsel würde Mercedes destabilisieren. Wenn überhaupt, dann hat die Veränderung sie noch stärker gemacht.»
Tatsächlich: Wie in den Wintertests der letzten Jahre ist die Standfestigkeit der Silberpfeile eindrucksvoll. Kein Team ist mehr gefahren. Ausser am Donnerstagmorgen auf nasser Bahn, da wurde der Mercedes von einem Elektrikproblem lahmgelegt. Valtteri Bottas hat eine solide Leistung gezeigt, mit schnellen Zeiten und wenigen Fehlern. Ob das gegen einen Lewis Hamilton reicht, ist eine andere Frage. Prädikat: WM-Favorit.
Ferrari ist die Überraschung des Tests. Ein Augenschein entlang der Bahn zeigt – der Wagen von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen liegt hervorragend. Natürlich machen sich die Tifosi Hoffnungen, dass die Durststrecke endlich zu Ende geht: Seit Singapur 2015 ist Ferrari ohne Sieg, seit 2007 (mit Kimi Räikkönen) ohne WM-Titel. Aber Zweifel dürfen erlaubt sein: Ist Ferrari nicht vor einem Jahr bei den Tests auch flott mitgefahren? Und wo standen sie am Ende der Saison? Prädikat (und Wunsch vieler Fans): GP-Sieger.
Red Bull Racing, überwiegende Meinung im Fahrerlager, ist Mercedes-Herausforderer Nummer 1. Daniel Ricciardo pfeift auf die Rundenzeiten: «Hier geht es nicht um Speed, es geht um Standfestigkeit.» Der Technikchef eines gegnerischen Rennstalls sagt mir: «Die werden zum Australien-GP ein Ass aus dem Ärmel ziehen, und dann zeigt sich das wahre Red Bull Racing. Die fahren hier weit unter ihren Möglichkeiten, das gilt auch für den gedrosselten Renault-Motor.» Prädikat: WM-Anwärter.
McLaren-Honda ist das Sorgenkind der Testfahrten. Wie sollen die McLaren-Techniker das Chassis ausloten, wenn der Honda-Motor Mucken macht? Fernando Alonso und Stoffel Vandoorne kamen viel zu wenig zum Fahren, und im Fahrerlager kursieren Wetten, wann dem spanischen Superstar Alonso wohl der Kragen platzt. Prädikat: Schlafender Riese.
Renault 2017 hat mit dem eher peinlichen Auftritt bei der Rückkehr als Werksrennstall 2016 nichts mehr zu tun. Es wird anvisiert, ins vordere Mittelfeld zu rückn, und erste Erkenntnisse aus Barcelona zeigen – das ist ein realistisches Ziel. Nico Hülkenberg platzt beinahe vor Tatendrang und Arbeitslust. Prädikat: Punktesammler.
Williams war am vierten Testtag nicht mehr auf der Bahn. Der 18jährige Lance Stroll hatte bei seinem dritten Ausrutscher das Chassis zu stark beschädigt. Ein Rookie soll Fehler machen dürfen. Aber Stroll macht zu viele, besonders einsichtig wirkt er danch nicht, er wirkte in Spanien eher hochmütig und trotzig, ein wenig wie ein verzogenes Kind. Nach Crash Nummer 3 kam er zu seiner Medienrunde eine Stunde zu spät. Ein charmantes «sorry» hätte die genervten Berichterstatter vielleicht versöhnt. Es kam aber nicht. Mit dieser Einstellung wird er noch einigen Gegenwind erhalten. Williams ist im Hintertreffen, weil die Fehler von Stroll Testzeit kosten. Die sind mit Papas Geld nicht aufzuwigen. Prädikat: Absteiger.
Sauber ist 2016 mit Müh und Not WM-Zweitletzter geworden. Die grösste Baustelle bei den Schweizern ist nicht das Auto, das läuft solide, wenn auch nicht berauschend schnell. Sorgen macht vielmehr der Fahrer: Pascal Wehrlein konnte den ersten Test aufgrund seiner Verletzung (Unfall beim Race of Champions im Januar) nicht fahren. Damit ist er automatisch im Hintertreffen. Es bestehen berechtigte Zweifel daran, ob er in Australien im Auto sitzen wird. Prädikat: Fragezeichen.
Gemäss Teambesitzer Gene Haas soll der US-amerikanische Rennstall in der WM um einen Rang nach vorne, noch besser wären zwei Plätze. Dazu müsste die Truppe um Teamchef Günther Steiner jedoch an Teams vorbei, welche in Spanien einen konkurrenzfähigeren Eindruck hinterlassen haben. Prädikat: stagnierend.
Toro Rosso-Technikchef James Key staunte nicht schlecht, als er auf Bildern den neuen Silberpfeil zu sehen bekam: fast identische Lösungen an der Vorderachse. Key lachte: «Wenn die Weltmeister sich für diese Aufhängungsart entscheiden, dann sind wir vielleicht nicht ganz auf dem Holzweg.» Der Toro Rosso ist in Sachen Standfestigkeit noch nicht auf der Höhe, das kostete Testzeit. Aber das überaus hübsche Auto wird Carlos Sainz und Daniil Kvyat noch viel Freude machen. Prädikat: Punktesammler.
Force India opferte erneut einen Viertel der Testzeit für den Waagrechtstarter Alfonso Celis. Geld regiert die Welt. Esteban Ocon und Sergio Pérez bewiesen: Der Wagen ist nicht eben die Schönheit des Feldes, wird aber beim Kampf im vorderen Mittelfeld mitgeigen. Das Spitzentrio von Mercedes-Benz, Red Bull Racing und Ferrari zu sprengen, wird freilich ein feuchter Traum von Team-Mitbesitzer Vijay Mallya bleiben. Prädikat: stagnierend.
Fazit nach dem ersten Wintertest
Die neue Hackordnung ist unheimlich schwierig einzuschätzen.
Erstens, weil die Fahrer nie unter identischen Bedingungen auf der Bahn gewesen sind, was Spritlast, Motorabstimmung, Reifenmischung und Tageszeit angeht.
Zweitens, weil die Rennställe in Spanien ganz unterschiedliche Programme verfolgt haben.
Drittens, weil laufend neue Teile an die Wagen kommen.
Die neue Formel 1 hat die Reihenfolge gewiss nicht komplett auf den Kopf gestellt. Aber die Königsklasse begeistert auch deshalb Millionen von Fans, weil eben immer dieses Element der Unwägbarkeit bleibt. Trotz oder gerade aufgrund von Fragezeichen bei den Wintertestfahrten.
Alleine deshalb wird der Australien-GP ein Leckerbissen. Wecker stellen lohnt sich: Sonntag, 26. März, 6.00 Uhr. Dann bleibt Zeit für ein Frühstück und Vorberichte, um 7.00 Uhr erlischt die Startampel.
Die ersten Barcelona-Testfahrten haben unseren Appetit darauf noch mehr angeregt.